Thomas Piketty – Das Kapital im 21.Jahrhundert
816 Seiten – Gebundene Ausgabe
Verlag: C.H.Beck – Aus Januar 2016
ISBN-10: 3406671314
ISBN-13: 978-3406671319
Das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty (kurz TP) erschien in der französischen Originalausgabe unter dem Titel „Le Capital au XXIe siècle“ im August 2013, die englische Übersetzung „Capital in the Twenty-First Century“ folgte im März 2014 und die deutsche Übersetzung Mitte 2014. Das Buch thematisiert grundlegende Fragen des Kapitals sowie der Vermögensungleichheit und Einkommensungleichheit. Dabei untersucht TP die Veränderungen in der Vermögensverteilung und Einkommensverteilung seit dem 18. Jahrhundert. TP vertritt in diesem geradezu bejubelten Buch die Thesen, die Vermögenskonzentration sei seit Mitte des 20. Jahrhunderts in den Industrienationen deutlich gestiegen, eine Zunahme der Ungleichheit gehöre wesentlich zum Kapitalismus und eine unkontrollierte Zunahme der Ungleichheit bedrohe Demokratie und Wirtschaft.
Zuvorderst möchte ich zu Protokoll geben, dass ich unter einem natürlichen Reflex „leide“: Bei allzu großem Lob, ganz gleiche ob es mir gegenüber oder gegenüber Anderen ausgesprochen wird, reagiert mein Skeptizismus mit Alarm. Dieser Alarm wurde im Zusammenhang mit „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty, durch Schlagzeilen und Sätze wie: „Ein Werk von historischer Tiefe mit einem noch nie zusammengetragenen Faktenreichtum“ (Die Welt) ausgelöst. Auch „Es ist das Wirtschaftsbuch, das die Welt im Sturm erobert hat“ (The Economist) oder aber „Dieses Buch wird die Ökonomie verändern und mit ihr die ganze Welt“ (Paul Krugman – Nobelpreisträger) alarmieren. Aber es wurde nicht nur gelobt, sondern auch verrissen – und das macht mich dann neugierig.
Als das Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ im Jahre 2014 bei uns erschien, wurde der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty (kurz TP) auch jenseits der Fachgrenzen international bekannt; u.a. auch mir. TP ist Professor an der Paris School of Economics und der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS). Sein bewusst einfach geschriebenes Buch ist auch für Nichtökonomen gut lesbar und so wurde ausnahmsweise ein Fachbuch, vor allem in den USA, zu einem Bestseller. Aber es wäre ungerecht, wenn ich schriebe, dass das Buch den Erfolg nur der leichten Lesbarkeit verdankt. Selbstverständlich liegt das auch an den in ihm enthaltenen Fakten, Analysen und den, aus den Schlussfolgerungen abgeleiteten, Forderungen an die Politische Ökonomie.
Worum genau geht es in dem Buch?
Nun, es ist nicht so einfach, ca. 800 Seiten geballte Fachkunde, auch wenn sie lesbar geschrieben ist, zusammenzufassen. Am besten, ich halte mich an die Struktur, die der Autor selbst vorgab: Mit einer klugen Einleitung, in vier großen Abschnitten, 16 Kapiteln und einer Schlussbetrachtung gibt TP uns faktengebundene und faktenreiche Auskunft z.B. darüber wie die Akkumulation und Verteilung von Kapital funktioniert und was dafür entscheidend ist. TP schreibt über die großen Themen der Politischen Ökonomie: Chancen für ökonomisches Wachstum, Konzentration von Wohlstand und die dadurch einhergehende Entwicklung von Ungleichheit.
Aber das Buch ist nicht nur ein wirtschaftswissenschaftliches Werk, das uns mit vielen Fakten versorgt (dazu komme ich am Ende noch), sondern es ist – nach meinem Verständnis – auch ein politisches Buch. Nicht anders kann man es verstehen, wenn TP schon der Einleitung einen Satz der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (Französische Revolution) vorangestellte: „Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.“ Diese Einleitung ist gleichzeitig auch ein historischer Überblick über Ökonomische Theorien und ihre Protagonisten – von Malthus bis Riccardo und Karl Marx bis Simon Kuznet. TP stellt fest, dass bisher kaum befriedigende wissenschaftliche Antworten auf die drängenden ökonomischen Fragen gegeben werden konnte, weil geeignete belast- und vergleichbare Daten und eine klare Theorie fehlten.
Für manche Menschen nichts Neues
Menschen die sich mit Politischer Ökonomie beschäftigen, reden seit Jahren schon von steigender Ökonomischer Ungleichheit, die sogar jeder Laie offensichtlich beobachten kann. Aber diesen Menschen wurde bisher unterstellt, sie würden aus ideologischen Motiven heraus argumentieren – nun hat TP Daten aus 20 Ländern, mit Rückgriffen bis ins 18. Jahrhundert zurück, zusammengetragen und konnte die entscheidenden ökonomischen und sozialen Muster freilegen. Überdies ist die Datenlage sicher genug, diese Muster für die Zukunft zu extrapolieren und ein weiteres Argument der Kapitalismuskritik, dass die Ökonomische Ungleichheit in der unmittelbar vor uns liegenden Zukunft noch verschärft wird (wenn niemand gegensteuert), zu bestätigen. Nun kann es keine Ausrede mehr geben und entsprechend ist das Echo in der Öffentlichkeit.
Das Buch hat weltweit eine stürmische Debatte um die richtigen Schlussfolgerungen ausgelöst. Zum Teil wird diese Auseinandersetzung mit unwissenschaftlichen oder gar unfairen Mitteln geführt und TP subtil – wie in Zeiten des Kalten Krieges – als Kommunist denunziert. Aber wer das Sprichwort vom getroffenen Hund kennt, erahnt um was es wirklich geht: Um Deutungshoheit und Rechthaberei… mit der Absicht, alles beim Alten lassen zu können. Manchmal ist das Gegenteil von Gut nicht schlecht, sondern gut gemeint – und so wird TP von Gutmeinenden sogar zum neuen John Maynard Keynes, zum neuen Alexis de Tocqueville, sogar zum Karl Marx des 21. Jahrhunderts hochgelobt. Was im Sinne meiner Einleitung dieser Besprechung, auch meinen Verdacht erregt. Die Financial Times brachte eine amüsante Glosse darüber, wie sich Befürworter und Gegner von TPs Werk in den Haaren liegen, ohne es zu kennen.
Es wird erst noch schlechter, bevor es besser werden muss
Im Mittelpunkt der vier Hauptabschnitte steht das was dieses Buch so bedeutend macht: Die Rechercheergebnisse. Dabei werden historische Entwicklungen deutlich, die lt. TP im Form einer U-Kurve verläuft. Der Autor hält sich bei der Phaseneinteilung an Zeitskalen, welche fortschrittliche Historiker wie z.B. Eric Hobsbawm: Zunächst das sog. „Lange 19. Jahrhundert“ (von 1789 bis 1914), das von einer extremen Konzentration des Einkommens und des Vermögens beim obersten Prozent der Bevölkerung geprägt ist. Dann die starke Abnahme der Ungleichheit, angefangen vom Ersten Weltkrieg über den Crash von 1929, weiter über den Zweiten Weltkriegs bis zur sog. Aufbau- und Wirtschaftswunderzeit, die in den frühen 1970er Jahren, spätestens mit dem Ende von Breton Woods, endet. Und schließlich, als dritte Phase, der Wiederanstieg der Ungleichheit, der in den späten 1970er Jahren begann, sich offenbar weiter fortsetzt und mit der sog. Finanzkrise noch lange nicht beendet ist.
Ein Blick auf die Zahlen nur für die USA spricht für sich: 2010 (kurz nach der Finanzkrise, inzwischen sind die Relationen noch höher) erzielten die obersten 10 Prozent der US-Bevölkerung knapp 50 Prozent des Einkommens der Nation. Das oberste Prozent erhielt allein rund 20 Prozent. Und dieses Prozent sicherte sich zudem 95 Prozent des gesamten Einkommenszuwachses von 2010 bis 2012. Noch schärfer, die Hälfte des Zuwachses kassierte das oberste Tausendstel (0,1 Prozent) der Bevölkerung. In Deutschland nimmt das oberste Prozent rund 12 Prozent des nationalen Einkommens ein, das oberste Tausendstel reserviert sich allein gut 4 Prozent, also das Vierzigfache seines demografischen Anteils.
Natürlich darf man nicht der Versuchung erliegen und einen 1:1-Vergleich der extremen Einkommens- und Vermögensungleichheit zu Zeiten vor 1914 mit heute anstellen, denn es gibt sehr große gesellschaftliche Unterschiede. Zum einen gibt es seither eine Mittelschicht (die TP, und die Mehrzahl seiner Kollegen, als die 40 Prozent definiert, die zwischen den oberen 10 und den unteren 50 Prozent („Unterschicht“) liegen. Besonders der 3. Hauptabschnitt „Struktur der Ungleichheit“ ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, da wir hier im Kapitel 11 „Verdienst und Erbschaft auf lange Sicht“ registrieren müssen, dass auf absehbare Zeit (bis ins Jahr 2030) die Konzentration der Vermögen durch Erbschaft noch ansteigen wird. Und im Kapitel 12 „Globale Vermögensungleichheit im 21. Jahrhundert“ werden wir darüber in Kenntnis gesetzt, dass das der Unterschied zwischen Kapital und Einkommen bis ins Jahr 2100 noch dramatisch weiter steigen wird – die heutigen politischen Verhältnisse zugrunde gelegt.
Die Wiederkehr der frühindustriellen Ungleichheiten betrifft daher die Extrempole der ökonomischen und sozialen Hierarchie, nicht die Schicht dazwischen. Zum andern ist die Frage nicht gänzlich geklärt, warum fast das ganze sog. „Kurze 20. Jahrhundert“ offenbar eine Ausnahme von der historischen Regel darstellt. Klar ist, mit den Weltkriegen und der ökonomischen Katastrophen historisch nicht vergleichbare Extreme auftraten. Aber es gab im 20. Jahrhundert auch eine lange Phase des Versuchs zum Ausgleich, den Ausbau des Sozialstaats (selbst in den USA) und eine Einschränkung der absoluten Handlungsfreiheit des Kapitals. Daraus ergeben sich Argumentationslinien für mögliche Schlussfolgerungen.
Quo vadis?
Wie immer, wenn Verantwortliche Konsequenzen eigentlich ziehen müssten aber nicht ziehen wollen, wird erst mal ausgiebig um Kaisers Bart gestritten. Man zweifelt Quellen, Erhebungsmethoden oder gleich die Mathematik an, nur um der eigentlich notwendigen Debatte zu entgehen, die eigentlich umgehend geführt werden muss: Was macht diese Ökonomische Ungleichheit mit der Gesellschaft? Was können die Folgen von Ökonomische Ungleichheit für die Demokratie bedeuten? Stellt Ökonomische Ungleichheit die politischen Institutionen in Frage? Geht den Menschen das Grundvertrauen in einen funktionierenden Staat verloren? Und es muss nicht nur endlich diese Debatte geführt werden, sie müssen auch zu konkreter Politik führen, die die Ungleichheit nivelliert. Da nützt es auch nichts, wenn selbst der ehemaliger Finanzminister Wolfgang Schäuble auf einem Podium zum Thema „soziale Stabilität“ nebenbei anmerkt, TP habe Recht.
Selbst wenn sich konservative Finanzminister vom Schlage eines Herrn Schäuble des Problems bewusst sind, ist leider noch nichts darüber gesagt, wie sie über die Tatsache dass die Ökonomische Ungleichheit existiert denken und wie sie diese Ökonomische Ungleichheit gesellschaftlich rechtfertigen. Wie ich zu Beginn geschrieben habe, hat TP eine – wie ich finde – eindeutige Haltung: Die extremen Ungleichheitsverteilungen heutzutage, lässt sich gesellschaftlich nicht rechtfertigen. Dabei möchte ich hervorheben, dass TP kein Kapitalismusgegner ist, sondern dass er lediglich Befunde herausarbeite, deren Wirkungen für die bestehende Ordnung folgenschwer sind.
Was nötig ist
Vielleicht sollte man die Losung „Aus der Geschichte lernen“ ausnahmsweise einmal ernst nehmen, denn dann könnte man sich z.B. an das „Kurze 20. Jahrhundert“ erinnern (ist ja auch noch nicht so lange her…) und eben jene Bedingungen herstellen, die offenbar zu einer Ausnahme von der historischen Regel des Auf und Ab der Ökonomischen Ungleichheit geführt haben. Damit meine ich natürlich nicht den Befund, dass die Weltkriege – und zwar mehr als jede sozialdemokratische Politik – zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse geführt haben. Wenn also, wie TP feststellte, Renditen immer schneller wuchsen als die Einkommen, es absurdes Missverhältnis von oberen und unteren Einkommen gibt und so etwas eine Elitenherrschaft etabliert wurde, die einem schon fast wie ein meritokratischer Extremismus gleichkommt, muss man diese Ursachen der Ökonomischen Ungleichheit nur spiegelbildlich betrachten. Dabei ergeben sich jene Optionen, die zur Verbesserung der Verhältnisse führen können: Zurückdrängung des Wirtschaftsliberalismus, gesellschaftliche Partizipation an den Vermögen, Unternehmensmitbestimmung und Ausbau des Sozialstaats.
In seinem abschließenden Kapitel schlägt TP darum zunächst als radikale Abhilfe gegen Ökonomische Ungleichheit, eine progressive Besteuerungen der höchsten Einkommen und Vermögen vor. Damit begibt er sich in die Niederungen der Politik, in der sich schon jetzt abzeichnet, dass seine Vorschläge mit der üblichen Chuzpe als unrealistisch abgetan werden. Aber die Öffentlichkeit kann ja das Ihre zur Beseitigung des Missstands beitragen. Es kommt nur darauf an, dass eine Betroffenheit hergestellt wird, damit die krasse Ökonomische Ungleichheit als Gefahr erkannt wird, welche die demokratischen Entscheidungsprozesse unterminiert, die Glaubwürdigkeit in die staatlichen Institutionen erschüttert und den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt beschädigt.
Zum Schluss noch einen technischen Hinweis: Um den Text nicht unnötig mit Fußnoten etc. zu überfrachten, wurde – auch der besseren Lesbarkeit halber – die detaillierte Auflistung der historischen Quellen, der bibliographischen Referenzen, der statistischen Methoden sowie der mathematischen Modelle in einen technischen Anhang verwiesen. Der Technische Anhang enthält auch insbesondere die Gesamtheit der Tabellen und die Datensätze, die der Erstellung der in diesem Buch versammelten Graphiken dienten. Die interessierten Leserinnen und Leser werden auf der Homepage online außerdem die Gesamtheit der Dateien, die Computerprogramme, die mathematischen Formeln und Gleichungen sowie Verweise auf die Primärquellen und Internet-Links zu den technischen Studien finden, die den Unterbau des Buches bilden. All das ist unter http://piketty.pse.ens.fr/capital21c abzurufen.