Antonio Lobo Antunes – Der Archipel der Schlaflosigkeit
320 Seiten – Gebundene Ausgabe
Verlag: Luchterhand Literaturverlag – Aus August 2012
ISBN-10: 3630873464
ISBN-13: 978-3630873466
Lobo Antunes gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart… und mittlerweile liegen über 20 Romane vor, die in alle wichtigen Sprachen übersetzt wurden. Dabei handelte es sich um psychologisch fundierte Studien, die von tragischen Biographien, von Tod und Krankheit, Trennungen und unerfülltem Leben erzählen. In einer Welt, in welcher das Tun der halbseidenen Prominenz, glorifizierter Stars oder verkrachter Existenzen die Berichterstattung beherrschen, richtet er seinen erzählerischen Blick – und lenkt somit den Blick der Lesenden – auf das Schicksal ganz alltäglicher Menschen oder auch kleiner Randexistenzen.
In seinen besten Romanen thematisiert er die gesellschaftlichen Verhältnisse Portugals während der Diktatur und vor allem die unselige Rolle Portugals in Afrika; was ihm bis heute in Portugal verübelt wird. Auch setzt er sich intensiv und kritisch mit der gegenwärtigen portugiesischen Gesellschaft auseinander und vermeidet weder „heilige“ Themen wie Familie, noch das glorifizierte Geschichtsbild der Portugiesen; er ist deshalb daheim unbeliebt und gilt als Nestbeschmutzer.
Dass seine Romane hierzulande keine Bestseller werden, mag am sprachlichen Stil Lobo Antunes´ liegen, der mit unglaublicher Dichte, erzählerischen Energie und immer einer Flut von Metaphern seine Geschichten erzählt. Das Werk des Autors gilt als Weltliteratur und mehrfach wurde er schon mit dem Literatur-Nobelpreis in Verbindung gebracht. ALA zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur und wahre Literaturbegeisterte kommen nicht umhin, diesem Schriftsteller einen prominenten Platz in ihrer Bibliothek einzuräumen.
In seinem Roman „Der Archipel der Schlaflosigkeit“ scheint der Autor mich Lügen strafen zu wollen, denn das Buch beginnt ganz konventionell, geradezu harmlos: Ein Haus auf dem Lande, Idylle hinter Zypressen und eine typisch portugiesische Familie. Ganz klassisch auch das typische Personal auf einem Landgut. Ein Enkel erinnert sich an seinen Großvater, der einst das Landgut gründete… und regelrecht beherrschte. Nun, wer Portugal und dessen Familienbild kennt, wird ahnen, dass die Idylle mehr Schein als Sein ist – noch heute herrschen archaische Vorstellungen. Bis hier hin ist das alles auch noch recht konventionell zu lesen.
Ganz allmählich aber, kommen die typischen Themen, für die Lobo Antunes seit Jahrzehnten berühmt und (gerade in Portugal) auch berüchtigt ist: Es geht einmal mehr um die Gesellschaft in der Diktatur, das krampfhafte Festhalten an Althergebrachtem, die Unfähigkeit zur Veränderung, die schließlich zum Zusammenbruch führen muss – in Portugal symbolisiert das die sog. Nelkenrevolution von 1974. Und ebenfalls ganz allmählich findet ALA auch zu seiner berüchtigten Erzählweise zurück – dieser konventionelle Beginn war nicht mehr und nicht weniger als die sanfte Einleitung eines ALA-typischen Romans, in welchem sich scheinbar nicht nur alle Erzähltechniken in Auflösung befinden, sondern auch das Sujet. Am Ende ist nicht einmal mehr klar, ob es das Landgut, um das sich in diesem Buch alles dreht, je gegeben hat. Diese Zweifel werden vom Bruder des Erzählers gesät, der in einer psychiatrischen Klinik untergebracht ist…
Wem das noch nicht genug ALA ist, wird nicht enttäuscht: Im letzten Teil des Buchs löst sich dann sogar das Eigentliche auf und die Wirklichkeit wird in Frage gestellt, denn die tote Schwester des ersten Erzählers beginnt zu sprechen. Immer neue Figuren tauchen aus dem Nichts auf, so dass man den Eindruck haben kann, dass es die Absicht des Autors ist, jede noch so sicher geglaubte Gewissheit mit Zweifeln zu hintertreiben… alle haben alles verdrängt, nur der als verrückt geltende Bruder ist unbeirrbar. Großartig!
Meine Faszination für die Romane Antonio Lobo Antunes´ ist seit Jahren ungebrochen und weil ich das nicht besser zum Ausdruck bringen kann, zitiere ich Verena Auffermann (Süddeutsche Zeitung): „Dass Antonio Lobo Antunes ein Meister ist, der wenig Konkurrenz zu fürchten hat, beweisen die Hymnen, die seit einigen Jahren seine Bücher begleiten. Seine Romane sind Verführungen, Besitz, ergreifende Totalvereinnahmungen… Vielleicht kann niemand so melodisch die schäbigen und zeitlosen Gefühle der Menschen beschreiben wie er. Das ist das Zeichen großer verfallsdatumsfreier Literatur.“