Leonardo Padura – Der Schwanz der Schlange
180 Seiten – Gebundene Ausgabe
Verlag: Unionsverlag – Aus Februar 2012
ISBN-10: 3293004407
ISBN-13: 978-3293004405
Viertel der Verlierer
Weit verbreitet ist die Erkenntnis nicht, dass die geschriebene Geschichte, immer die Geschichte der Sieger ist und die Verlierer immer doppelte Verlierer sind. Denn sie unterliegen nicht nur einer Übermacht im Jetzt, sondern sie unterliegen dieser Macht auch in der Zukunft; manchmal für immer. Kuba ist seit der Eroberung durch die Spanier und den Sklavenhandel ein Vielvölkerstaat – von den Taino und den Kariben, die einst hier lebten, ist so gut wie keine Spur mehr zu finden; sie waren Totalverlierer. Nachdem auf dem Wiener Kongress 1815 der Sklavenhandel für illegal erklärt worden ist, dauerte es noch 20 Jahre bis das Verbot schließlich in Kraft getreten war. Damit hatten die Großgrundbesitzer auf Kuba ein Problem.
Das sie dadurch lösten, dass sie 1847 Arbeitskräfte aus China importierten; was wörtlich zu verstehen ist. Von den 135.000 sog. Kulis, welche die Überfahrt antraten, kamen 15.000 ums Leben; Verlierer. Im Jahre 1931 lebten auf Kuba noch ca. 25.000 Chinos, wie sie abschätzig genannt wurden, im Status der weitgehenden Rechtlosigkeit. Selbst nach der Revolution, stellten sie die absolute Unterschichte, den Bodensatz der Gesellschaft. Heute ist das Chinesenviertel in Havanna fast nicht mehr existent Was man für die wenigen Touristen, die sich für die Geschichte interessieren als das Barrio Chino ausgibt, sind ein paar halbverfallene Häuser, auf die man ein paar chinesische Schriftzeichen gemalt hat. Verlierer. Halt, nicht ganz, denn Leonardo Padura hat an sie gedacht.
Leonardo Padura (LP) ist Kubaner, 1955 in Havanna geboren… mitten hinein in die Zeit des Guerilla-Kriegs der kubanischen Revolution gegen den Diktator Battista. Als die Revolution siegt, ist LP vier Jahre alt. Eine der ersten Maßnahmen der Revolution war die Alphabetisierungs-Kampagne von 1961 und die Errichtung eines flächendeckenden, kostenlosen Schulsystems, in dessen Genuss LP kommt. Er selbst gibt zu Protokoll, dass er zwar die gesamte Schulzeit über, einen einseitigen Blick auf die Wirklichkeit beigebracht bekam, aber auch, dass er eine ausgezeichnete fachliche Ausbildung genoss. In der Oberstufe entdeckte er die Literatur für sich und so begann er ein Philologie-Studium, das er 1980 als diplomierter Philologe abschloss.
Kurz nach seinem Abschluss, begann er als Journalist bei der berühmten Zeitschrift „El caimán barbud“. Die Arbeit gefällt ihm und er bezeichnete die Redaktion als Paradies… in dem man allerdings ständig kontrolliert und zensiert wurde. Offenbar war er nicht bereit, der Macht nach dem Munde zu schreiben und so wurde er zum Magazin „Juventud rebelde“ strafversetzt. 1989 wurde er Chefredakteur von La Gaceta de Cuba und begann Kriminalromane zu schreiben, für die er in Spanien Verleger und Anerkennung fand. LP verfasste neben seinen bekannten Krimis, literaturwissenschaftliche Essays, Erzählungen und weitere Romane. Er lebt und arbeitet weiterhin in Havanna.
Zum Titel: Der Roman „Der Schwanz der Schlange“ erschien 2011 und gleich danach in Deutschland unter dem identischen Titel. Einmal mehr bringt LP seine stärkste Seite zur Geltung: Einen Krimi mit seinem Protagonisten und absoluten Sympathie-Träger Mario Conde in der Hauptrolle (ich bin wirklich gespant, wann diese Krimis verfilmt werden – bei den wunderbaren Vorlagen sollten das gut zu vermarktende Filme werden). Eigentlich ist Conde ja seit Anfang der 1990er Jahre aus dem Polizeidienst ausgeschieden, weil er in dem korrupten System nicht mehr mitspielen wollte und er außerdem mit der zunehmenden Brutalisierung der Verbrechen nicht klarkam. Aber hier erleben wir noch einmal den Teniente Mario Conde von früher; offensichtlich bei der Lösung eines alten Falles.
Teniente Mario Conde besucht nach vielen Jahren das Chinesenviertel von Havanna und erinnert sich dabei an einen verzwickten Fall aus dem Jahr 1989. Damals wurde ein Chino erhängt in seiner Wohnung gefunden. Es konnte kein Selbstmord gewesen sein, denn überdies waren in seinen Körper mit Messern Pfeile eingeritzt; zudem war der Zeigefinder der linken Hand abgeschnitten. Entweder war das eine Folterorgie in irgendeiner kriminellen Sache oder es war irgendein fremdartiges Ritual. Jedenfalls konnte man in diesem Viertel nur ermitteln, wenn man einen Gewährsmann hatte, dem die Leute des Viertel vertrauen; denn eine Lehre aus all den Kränkungen, war Mißtrauen gegenüber allen, die keine Chinos sind.
Mario Condes Kollegin Patricia Chion bittet ihn, den Fall zu übernehmen, denn nur ein erfahrener Ermittler kann in dem Fall Erfolg haben und Patrizias Vater soll den Gewährsmann geben. Aber dieser hält das Ganze für eine rein gemeindeinterne Angelegenheit; was den Fall zusätzlich verkompliziert und mystifiziert. Jetzt steht Conde da und hat keine Ahnung von den chinesischen Kubanern – außer die üblichen Vorurteile und üblen Nachreden, denen sämtliche Randgruppen überall auf der Welt ausgesetzt sehen. Aber Conde ist kein Rassist und setzt sich über die Vorurteile hinweg. Langsam kommt Licht in die Sache und Conde begreift, in welcher schlimmen Situation sich die chinesischen Einwohner Havannas befinden und warum sie sich in ihren eigenen Mikrokosmos zurückziehen.
Die Omertà der sizilianischen Mafia hatte den Zweck hat, dass Mitglieder gegenüber Außenstehenden nicht über Interna sprechen, also auch keinen Verrat begehen können. Genauso verhält es sich im Chinesenviertel… man spricht nicht mit Nichtchinesen, die gesamte Gesellschaft der Anderen von jeher gegen die Chinos waren und jeden Versuch der Assimilierung abblockten. Auf diese Mauer des Schweigens trifft Conde. Dennoch versuchte er den Mord aufzuklären. Letztlich löst er den Fall… und kommt dem Geheimnis der chinesisch-kubanischen Familie seiner Kollegin auf die Spur.
Schlussbemerkungen: Ich gebe zu Protokoll, dass ich ein Padura-Fan bin, seit ich 1991 den ersten Band des berühmten Havanna-Quartetts in Händen hielt. Genauso lange mag ich die Figur des Mario Conde, denn die entstand in diesen Krimis. Insofern wird man von mir keine objektive Aussage erwarten dürfen. Natürlich würde ich etwas bodenlos Schlechtes nicht hochjubeln, aber das ist bei LP nie nötig gewesen, denn er war und ist, seit er hierzulande in Erscheinung getreten ist, ein versierter Erzähler und wunderbarer Romancier. Man kann ein jedes seiner Bücher bedenkenlos zur Hand nehmen und wird ein wunderbares Leseabenteuer erleben. Das gilt auch für die hier versammelten kurzen Texte – oder besser gesagt – gerade für diese Texte.
LP ist hierzulande hauptsächlich wegen seiner Krimis bekannt. Dieses Genre nutzt er, wie übrigens viele Autoren*innen in Lateinamerika, da sich in der Lateinamerikanischen Literatur (oder in Literaturen aus Ländern, in denen Autoren*innen unterdrückt/zensiert werden) der Trend verfestigt, soziale und/oder gesellschaftspolitische Themen in die Handlungen der Krimis hinein zu flechten, so dass im Kleide vordergründiger Trivialität, hintergründig anspruchsvolle Literatur entsteht. Und so hat uns LP in seinen Krimis immer auch eine sehr realistische Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände in Kuba geliefert. Darum geht es auch hier – mit einem seltenen Blick auf einen Teil der kubanischen Geschichte, die fast in Vergessenheit geraten ist. Auf dass es nicht noch mehr Verlierer geben möge.