Jean Ziegler – Hass auf den Westen

Man kann es verstehen

Jean Ziegler – Hass auf den Westen


Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: C. Bertelsmann – Aus 1. Sept. 2009
ISBN-10: 3570011321
ISBN-13: 978-3570011324

Man kann ja verstehen, dass jemand der lange Zeit immer wieder versucht eine Situation zu ändern, von der er meint, dass sie zum einen dringend geändert werden muss und der zum anderen, diese Änderung für möglich hält, irgendwann frustriert die „feine Klinge“ zur Seite legt und zornig mit dem großen Haudegen weiter ficht. Und so ist es auch zu verstehen, dass ein an sich nüchterner Fachmann, ein in organisatorischen Verfahren sehr erfahrener und in diplomatischen Dingen gebildeter Mann, die erfahrene, nüchterne und diplomatische Sprache ablegt und dann in zuspitzender Schärfe weiterspricht – in diesem Fall weiter schreibt.

Jean Ziegler, das ist der Name eben jenes Mannes, von dem im ersten Absatz die Rede ist. Um einordnen zu können, woher diese scharfe Kritik, diese zugespitzte Sprache, ja, auch der persönliche Frust kommt, muss man sich nur den Lebenslauf dieses 86jährigen Mannes anschauen. Ich habe die biographischen Daten einmal zusammen gefasst: Der schweizerische promovierte Jurist, Soziologe, Politiker und Sachbuchautor Jean Ziegler wurde am 19. April 1934 als Hans Ziegler in Thun, Schweiz geboren und wuchs in einem konservativ bürgerlichen Haus auf (sein Vater war Amtsrichter). Wie es nun mal oft in Akademiker-Familien üblich ist, sollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten, was letztlich auf ein Jura-Studium hinauslief. Während seines Studiums trat er – ganz entsprechend seiner Erziehung – als überzeugter Antikommunist auf. 1953 ging für einige Jahre nach Paris, um dort sein Jura-Studium weiterzuführen. In Paris lernte er, neugierig, selbstbewusst und intelligent wie er nun mal ist, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir kennen und bekam von ihnen „sein theoretisches Rüstzeug für den Kampf um Gerechtigkeit.“ Er konvertiert zum Sozialismus. 

1961 bewarb er sich dann für eine Assistentenstelle der UNO im Kongo, der von Belgien gerade in die Unabhängigkeit entlassen worden war. Dort bekam er dann sein praktisches Rüstzeug. Nach eigenen Aussagen wurde er durch seinen zweijährigen Afrika-Aufenthalt als UN-Experte, und das dort gesehene Elend, zu einer radikalen Änderung seiner Grundauffassungen bewegt (kleine Bemerkung des Autors: was ich mir nicht nur vorstellen kann, sondern was ich im Sahel am eigenen Leib ebenfalls spürte). In seiner Autobiographie steht, dass er sich damals schwor: „Nie mehr – nicht einmal rein zufällig, möchte ich auf der Seite der Henker stehen.“

1964, traf er in Genf  auf Che Guevara, der an einer Konferenz teilnahm; Ziegler begleitete ihn während der sechs Wochen der Konferenz und wollte Che schließlich nach Kuba folgen. Doch Che beschied ihm: „Schau Dich um, Juan. All die Banken, Versicherungen, die teuren Hotels, die mächtigen Firmen. Hier bist Du im Gehirn des Ungeheuers! Was willst Du mehr? Dein Schlachtfeld ist hier.“ Jean Ziegler blieb in der Schweiz, studierte fortan Soziologie und verwendete anstelle des Deutschen die französische Sprache. 

Von 1967 bis 1983 und von 1987 bis 1999 war Jean Ziegler Genfer Abgeordneter im Nationalrat für die Sozialdemokratische Partei (SP) der Schweiz; ab 1977 wurde er Professor der Soziologie an der Uni in Genf, was er bis zu seiner Emeritierung im Mai 2002 bleiben sollte. Zudem war er ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Seit September 2000 ist Jean Ziegler UN-Sonderberichterstatter für „Das Recht auf Nahrung“. In dieser Funktion verfasste er, unter anderem, jährlichen allgemeinen Berichten und Empfehlungen für die Vereinten Nationen.

Jean Ziegler nahm Che beim Wort und nahm den Kampf gegen „das Ungeheuer“ auf. Seine Waffe war immer (ausschließlich) das Wort und so schrieb er bis heute schließlich 16 Bücher. Das fünfte Buch, 1976, machte ihn erstmals auch international bekannt. Der Titel „Die Schweiz, über jeden Verdacht erhaben“, wurde ein Bestseller in Millionenauflage. Darin wagte Ziegler auszusprechen, was in der Schweiz noch keiner zuvor gewagt hatte: …dass auch die Schweiz Dreck am Stecken habe. Leichen im Keller. Ziegler schreibt: „Die vielen hundert Millionen Dollar, die alljährlich aus den Ländern der Dritten Welt abfließen und die, in Schweizer Franken umgetauscht, in den Ali-Baba-Höhlen unter der Zürcher Bahnhofstraße lagern, sind das Blut der Armen und der Opfer von Kriminellen.“

Das „Ungeheuer“ schlug zurück! Wegen seiner massiven Kritik an schweizerischen Banken, wurde er als „Landesverräter“ angegriffen und von mehreren Instituten, zum Teil erfolgreich, verklagt. Die Verurteilungen zu Schadensersatz brachten ihn wirtschaftlich an den Rand des Ruins. Der Prozess wegen Landesverrats endete allerdings mit einem  Freispruch. Dennoch ist seine Kritik – leider – auch heute noch aktuell.

Jean Ziegler gilt heute als scharfzüngiger Globalisierungskritiker und gehört deshalb zur Standartlektüre von z.B. Attac-Aktivisten. Reich an eigenen Erfahrungen – und an Schulden aus unzähligen Verleumdungsklagen – prangert er unermüdlich vor allem das Geschäftsgebaren transnationaler Konzerne an; hält sich mit Kritik aber auch nicht vor politischen Institutionen, politischen Akteuren und dem kapitalistischen System an sich zurück. Besonderes Augenmerk legt er folgerichtig auch auf die eigentlichen Machtapparate im Hintergrund der globalisierten Welt; namentlich Weltbank, IWF und WTO.

Wenn also Ziegler von Hass schreibt, dann kann man das als polemische Übertreibung lesen, die dazu beitragen soll, dass das tatschächlich vorhandene Pänomen wahrnehmbar an die die Oberfläche der Berichterstattung kommt. Ziegler stellt nüchtern fest, dass mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation mitnichten „das Ende der Geschichte“ erreicht war (wie es uns Bürgerliche Historiker weismachen wollten), sondern dass auch nach dem historischen Ereignis „Auflösung der Sowjetunion“, wirtschaftspolitisch, ordnungspolitisch und machtpolitisch alles beim Alten blieb. Schlimmer noch: Er argumentiert, dass zusätzlich der überwunden geglaubte Imperialismus des 19. Jahrhunderts, von den selben Akteuren wie seither verstärkt – aber natürlich mit anderen Mitteln – weiter geführt wird. 

Die Zentren der Macht sind im Wesentlichen noch dieselben wie vor mehr als hundert Jahren, als Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan und die USA – heute allesamt Mitglieder der G7 – die Welt und die Ressourcen unter sich aufteilten. Heute wird nur nicht mehr offen von koloniale Machtausübung gesprochen, sondern man kämpft z.B. in Afghanistan gegen Terror, für Menschenrechte und Demokratie. Nur hin und wieder – meist unbedacht – sagt mal jemand die Wahrheit, wie z.B. der Ex-Bundespräsident der BRD Köhler… weswegen er ja auch jetzt ein Ex ist. Ja, es geht um die Sicherung des Nachschubs an im Westen unverzichtbare Ressourcen und Ziegler nennt das in seiner unnachahmlichen Sprache „wirtschaftlicher Weltkrieg“.

Ziegler sieht die Verantwortung und die Befehlshaber in diesem „wirtschaftlichen Weltkrieg“ dort, wo sie seit über 500 Jahren immer Zuhause waren: In den alten Kolonialmächten, die sich verschleiernd „Der Westen“ nennen. Mit all diesen Ländern innewohnenden propagandistischen Macht, postuliere man gebetsmühlenartig

„unwandelbare wissenschaftlichen” Marktgesetze und den, auf diesem Fundament stehenden, Kapitalismus, als „allein selig machende“ Wirtschaftsordnung. Mehr noch, „Der Westen“ schwinge sich zum Träger universeller Werte auf, so Ziegler, wie z.B. Das Selbstbestimmungsrecht aller Völker. Doch gleichzeitig spreche „Der Westen“ allen anderen Zivilisationsformen das Existenzrecht ab, wenn sie sich etwas unterstehen, ihren eigenen Weg gehen zu wollen. Ziegler konstatiert; dass so „Der Westen“ (12,8 Prozent der Weltbevölkerung) über den großen Rest der Menschheit herrsche. Das, so Ziegler, erzeuge eben jenen Hass, der sich in Terroranschlägen wie z.B. dem berüchtigten 9/11 zeigte.

Das komme auch aus der Machtlosigkeit des Großteils der Menschheit. Sie hat eben weder den Zugang zu, noch das Sagen in den großen internationalen Apparaten habe; Weltbank, IWF, WTO, Weltsicherheitsrat. Die Vereinten Nationen funktioniere nicht, weil sich die Länder des Westens und der ganze Rest sich gegenseitig blockierten – und hier will Ziegler auch die Manifestation des Hasses bemerkt haben, über den er in diesem Buch schreibt und für den er Beispiele nennt: In Haiti, nur eine Flugstunde von Miami entfernt, essen die Menschen Kuchen aus Schlamm. Nigeria in Afrika sei eines der ölreichsten Länder der Welt und „ohnmächtige Beute von Shell, BP, Total, Exxon, Texaco und anderem Raubgesindel”. Es gibt dort nicht mal genug Benzin, weil der Reichtum an den Menschen vorbeifließt. Dies sind die Ströme, die sich in 500 Jahren Kolonialgeschichte in ihr Bett gefressen haben, und die man nicht mehr so leicht umleiten kann.

Aber „nicht mehr so leicht umzuleiten“ bedeutet ja nicht, „unmöglich umzuleiten“ – und so nennt Ziegler auch einen Hoffnungsschimmer: Evo Morales und die „Volksregierung“ in Bolivien. Das Beispiel könne auf den ganzen Erdteil ausstrahlen. Nun, das Buch ist im Jahre 2008 erschienen und deswegen wissen wir heute, dass sich der „Heilsbringer“ Morales mindestens dumm und töricht verhalten hat und damit seine Idee desavouierte. Grundsätzlich ändert sich deswegen die Richtigkeit der Idee zwar nicht, aber es wird – wegen der Zweifel – schwieriger sie zu verwirklichen. Ich persönlich hätte an der Verwirklichung der Idee nichts einzuwenden und es bleibt zu hoffen, dass sich daraus ein neues „emanzipatorisches Zeitalter“ entwickeln könnte.

Das kann allerdings nicht nur von den Schwachen ausgehen. Eine alte Phrase fragt: Wedelt der Hund mit dem Schwanz, oder der Schwanz mit dem Hund? Die Beantwortung der Frage ist einfach. Und genauso einfach ist die Einsicht zu gewinnen, dass es nicht den Opfern von Kolonialismus, imperialistischer Gewalt und Ausbeutung über lassen bleiben kann der Unmenschlichkeit des System etwas entgegenzusetzen, sondern selbstverständlich wird es auf die Zivilgesellschaften des Westens ankommen, das historische Kapitel der Herrschaft des Westens über den Rest der Welt zu beenden und anstelle der Hass erzeugenden Konfrontation, die Kooperation aller Menschheitsteile zu setzten.

Nun, es ist nicht das erste Buch des Schweizers, das ich als anregende Lektüre empfunden habe. Eigentlich gibt es in den Büchern von Jean Ziegler immer eine immense Menge an fundierten Informationen, die man meist auch mühelos selbst auf ihre Richtigkeit überprüfen kann. Und auch wenn man kein Freund seiner „publizistischen Zornesausbrüche“ (wie das mal ein Kollege genannt hat) ist, so kann man doch auch in ruhiger Analyse nicht umhin, die Kritik am Kapitalismus in seiner imperialistischen, neokolonialen Form zumindest als „gut argumentiert“ zu bezeichnen. Jean Ziegler ist in seiner Haltung als globalisierungskritischer Anwalt der Völker des Südens bekannt und so wird man bei den Inhalten dieses Buches auch nicht anderes erwarten können. Er sagt eben:  „Nie mehr – nicht einmal rein zufällig, möchte ich auf der Seite der Henker stehen.“