Jean Ziegler – was ist so schlimm am Kapitalismus

Gemeinsam für eine gerechtere Welt

Jean Ziegler – was ist so schlimm am Kapitalismus


Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: C. Bertelsmann – Aus März 2019
ISBN-10: 3570103706
ISBN-13: 978-3570103708

Eine fiktive Enkelin sieht ihren Großvater in einer Fernsehsendung, in der er kontrovers mit dem CEO von Nestlé debattiert. Natürlich versteht das kleine Mädchen nicht um was es hier inhaltlich geht und sogar die meisten der benutzten Wörter sind ihm fremd – aber sie sieht, dass ihr sonst so lieber Opa während dieses Streits sehr, sehr zornig ist und fragt die berüchtigte Kinderfrage: Warum. So eröffnet Jean Ziegler sein neustes Buch, das so ganz anders beginnt, wie man es von diesem widerborstigen Streiter gegen die neoliberale Ideologie gewöhnt ist. Für gewöhnlich nimmt er nämlich, von der ersten Zeile an, kein Blatt vor den Mund und schlägt mit grober, direkter und undiplomatischer Sprache zu.

Für das Verständnis von Jean Zieglers Position, ist die Kenntnis seiner Biografie eigentlich unerlässlich (siehe „Ändere die Welt“ – auch von mir hier vorgestellt). Deshalb habe ich die wichtigsten Daten kurz zusammengefasst: Der schweizerische promovierte Jurist, Soziologe, Politiker und Sachbuchautor Jean Ziegler wurde am 19. April 1934 als Hans Ziegler in Thun, Schweiz geboren und wuchs in einem konservativ bürgerlichen Haus auf (sein Vater war Amtsrichter). Wie es nun mal oft in Akademiker-Familien üblich ist, sollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten, was letztlich auf ein Jura-Studium hinauslief. Während seines Studiums trat er – ganz entsprechend seiner Erziehung – als überzeugter Antikommunist auf. 1953 ging für einige Jahre nach Paris, um dort sein Jura-Studium weiterzuführen. In Paris lernte er, neugierig, selbstbewusst und intelligent wie er nun mal ist, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir kennen und bekam von ihnen „sein theoretisches Rüstzeug für den Kampf um Gerechtigkeit.“ Er konvertiert zum Sozialismus. 

1961 bewarb er sich dann für eine Assistentenstelle der UNO im Kongo, der von Belgien gerade in die Unabhängigkeit entlassen worden war. Dort bekam er dann sein praktisches Rüstzeug. Nach eigenen Aussagen wurde er durch seinen zweijährigen Afrika-Aufenthalt als UN-Experte, und das dort gesehene Elend, zu einer radikalen Änderung seiner Grundauffassungen bewegt (kleine Bemerkung des Autors: was ich mir nicht nur vorstellen kann, sondern was ich im Sahel am eigenen Leib ebenfalls spürte). In seiner Autobiographie steht, dass er sich damals schwor: „Nie mehr – nicht einmal rein zufällig, möchte ich auf der Seite der Henker stehen.“

1964, traf er in Genf  auf Che Guevara, der an einer Konferenz teilnahm; Ziegler begleitete ihn während der sechs Wochen der Konferenz und wollte Che schließlich nach Kuba folgen. Doch Che beschied ihm: „Schau Dich um, Juan. All die Banken, Versicherungen, die teuren Hotels, die mächtigen Firmen. Hier bist Du im Gehirn des Ungeheuers! Was willst Du mehr? Dein Schlachtfeld ist hier.“ Jean Ziegler blieb in der Schweiz, studierte fortan Soziologie und verwendete anstelle des Deutschen die französische Sprache. 

Von 1967 bis 1983 und von 1987 bis 1999 war Jean Ziegler Genfer Abgeordneter im Nationalrat für die Sozialdemokratische Partei (SP) der Schweiz; ab 1977 wurde er Professor der Soziologie an der Uni in Genf, was er bis zu seiner Emeritierung im Mai 2002 bleiben sollte. Zudem war er ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Seit September 2000 ist Jean Ziegler UN-Sonderberichterstatter für „Das Recht auf Nahrung“. In dieser Funktion verfasste er, unter anderem, jährlichen allgemeinen Berichten und Empfehlungen für die Vereinten Nationen.

Jean Ziegler nahm Che beim Wort und nahm den Kampf gegen „das Ungeheuer“ auf. Seine Waffe war immer (ausschließlich) das Wort und so schrieb er bis heute schließlich 16 Bücher. Das fünfte Buch, 1976, machte ihn erstmals auch international bekannt. Der Titel „Die Schweiz, über jeden Verdacht erhaben“, wurde ein Bestseller in Millionenauflage. Darin wagte Ziegler auszusprechen, was in der Schweiz noch keiner zuvor gewagt hatte: …dass auch die Schweiz Dreck am Stecken habe. Leichen im Keller. Ziegler schreibt: „Die vielen hundert Millionen Dollar, die alljährlich aus den Ländern der Dritten Welt abfließen und die, in Schweizer Franken umgetauscht, in den Ali-Baba-Höhlen unter der Zürcher Bahnhofstraße lagern, sind das Blut der Armen und der Opfer von Kriminellen.“

Das „Ungeheuer“ schlug zurück! Wegen seiner massiven Kritik an schweizerischen Banken, wurde er als „Landesverräter“ angegriffen und von mehreren Instituten, zum Teil erfolgreich, verklagt. Die Verurteilungen zu Schadensersatz brachten ihn wirtschaftlich an den Rand des Ruins. Der Prozess wegen Landesverrats endete allerdings mit einem  Freispruch. Dennoch ist seine Kritik – leider – auch heute noch aktuell.

Jean Ziegler gilt heute als scharfzüngiger Globalisierungskritiker und gehört deshalb zur Standartlektüre von z.B. Attac-Aktivisten. Reich an eigenen Erfahrungen – und an Schulden aus unzähligen Verleumdungsklagen – prangert er unermüdlich vor allem das Geschäftsgebaren transnationaler Konzerne an; hält sich mit Kritik aber auch nicht vor politischen Institutionen, politischen Akteuren und dem kapitalistischen System an sich zurück. Besonderes Augenmerk legt er folgerichtig auch auf die eigentlichen Machtapparate im Hintergrund der globalisierten Welt; namentlich Weltbank, IWF und WTO.

Aus dem Warum zu Beginn des schmalen Ziegler-Bandes, entwickelt sich ein langer Dialog und dessen Verlauf die Enkelin immer weitere Fragen stellt und immer weitere, verständliche Antworten erhält. Es gibt kein Inhaltsverzeichnis, kein register und kein Glossar – alles auch nicht erforderlich, da das Buch offensichtlich einem anderen Zweck dient: Es will ins Gespräch kommen. Es will, dass junge Menschen mit älteren sprechen, es will den Erfahungstransfer. Und gerade derzeit, wo sich erfreulicherweise sehr junge Menschen aufmachen, für ihre Interessen zu kämpfen, ist es erforderlich, ihnen Grundsätzliches zu erklären, damit sie ihre Kraft nicht an der falschen Stelle annutzen.

Diese junge Friday-for-Future-Bewegung und dieser alte Kämpfer für eine gerechte Weltordnung passen in ihrer Kompromisslosigkeit eigentlich recht gut zueinander, da es schließlich gleichgültig ist, ob diese Weltordnung für zehntausende Hungertote täglich oder ob die Art unseres wirtschaftens für die Zerstörung der natürlich Umwelt verantwortlich gemacht werden kann – in beiden Fällen muss sie bekämpft und günstigenfalls anders gestaltet werden. Und wer anders bitte, sollte das bewerkstelligen, wenn nicht die jungen Leute? Im Übrigen begrüße ich es sehr, dass sich ein weltweit signifikanter Teil der Jugend wieder politisiert und sicher ist das auch im Sinne von Ziegler.

Sicher ist das Büchlein für ein Publikum geschrieben, das nicht die Erfahrung der „leisen Zwischentöne“ mitbringt – und es ist das recht der Jugend direkt, wütend und plakativ zu sein. Insofern schreibt Ziegler genau diesem Publikum: „Ich bin ein Feind des Kapitalismus. Ich bekämpfe ihn“ oder „Das kapitalistische System lässt sich nicht schrittweise und friedlich reformieren. Wir müssen den Oligarchen die Arme brechen, ihre Macht zerschlagen.“ Es ist nicht zwar nicht mein Duktus, ich erinnere mich aber an meine Jugend und bin mit den Aussagen einverstanden; eingedenk der Tatsache, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. Bei mir wurde aus Zieglers Schlussfolgerung „Daher hat jeder Mensch um seiner selbst willen, die Pflicht zur Revolte“, der permanente Auftrag der Interessenvertretung. 

Leider wird der Autor sehr oft beschimpft, diffamiert oder es wird ihm die Kompetenz abgesprochen – häufig genug von Leuten, die sehr viel weniger an Lebensleistung vorzuweisen haben als er. Das sollte uns nicht hindern, dieses schmale Büchlein an unsere Jungen weiterzureichen. An die jungen Leute gerichtet: Lest das Buch, es wird euch zu verstehen helfen. An die Eltern: Lest das Buch, es wird euch die jungen Leute verstehen helfen. Lest es gemeinsam, dann arbeiten wir zusammen an einer gerechteren Weltordnung. Ziegler hilft uns dabei.