Jorge Franco „Die Scherenfrau“

Jorge Franco – Die Scherenfrau

192 Seiten – Broschur

Verlag: Unionsverlag – Aus 2004

ISBN-10: 329320287X

ISBN-13: 978-3293202870

Hommage auf Borges

Lateinamerika. Es ist sehr seltsam, dass eine Weltregion hierzulande sehr beliebt ist, doch die meisten Menschen über die Aktualitäten dieser Region sehr wenig wissen; ich hoffe nicht, dass die Beliebtheit aus der Unwissenheit resultiert. Es mag daran liegen, dass hier Europa das mediale Interesse und/oder die persönlichen Interessen des Publikums sehr unterschiedlich ausgeprägt sind und wir in Deutschland also nur das präsentiert bekommen, von dem die Medien glauben, dass es uns interessiert. In Ländern wie Portugal und Spanien ist das, der „gemeinsamen“ Geschichte und der oft noch familiären Verbindungen nach „America azul“, sehr viel anders. Vielleicht ist mein Urteil aber auch etwas ungerecht, da ich meinen eigenen Wissenstand als einer Sache, wenn man sich näher interessiert und sich damit befasst.

Beim vorliegenden Werk handelt es sich um ein Stück Kriminalliteratur. Wie ich in einigen jüngeren Besprechungen schon beschrieb, benutzen Lateinamerikanische Autoren in den letzten Jahren gerne das Genre des Kriminalromans, um ihn als Vehikel einer eigentlichen Botschaft zu gebrauchen. Gerade in Lateinamerika hat sich in den letzten Jahren eine Art Krimi-Literatur herausgebildet, die mehr sein will, die mehr sein muss. Die Autoren einfach als Kriminalschriftsteller zu bezeichnen, greift bei weitem zu kurz, denn diese Autoren wollen – ganz in der engagierten Tradition der Lateinamerikanischen Literatur – auf die aktuelle Wirklichkeit verbessernd einwirken. Als Beispiele können hier Leonardo Padua, Ramon Diaz-Eterovic oder Pablo de Santis (alle hier von mir vorgestellt) genannt werden. In dem sie ihre Sicht der Dinge, ihre Analysen und Lösungsansätze in die populäre Form des Kriminalromans bringen, versuchen sie einem breiteren Publikum die Wahrheiten hinter den Fassaden der Wirklichkeit näher zu bringen. Mein neustes Projekt ist eine Serie von Rezensionen von solchen Werken; hier das des Kolumbianers Jorge Franco „Die Scherenfrau“.

Jorge Franco (Jahrgang1936) wurde in Rio de Janeiro/Brasilien, geboren, verbrachte allerdings den größten Teil seiner Kindheit und Jugend in den USA, wo sein Vater berufliche Verpflichtungen hatte (Professor an der UC Berkeley). Er ist nicht nur Schriftsteller (der wirtschaftlich erfolgreichste Brasiliens), sondern auch Journalist, Publizist, Übersetzer und Karikaturist. Zudem ist er Musiker (Jazz, Saxophon) und leidenschaftlicher Fußball-Fan (FC Internacional de Porto Alegre). In der Öffentlichkeit ist er schüchtern und scheint in keiner Weise der Autor seiner respektlosen Texte zu sein; Seine Freunde definieren ihn als „eine Person, die schreibt“. Luis Fernando Verissimo lebt heute in Porto Alegre.

Zum Buch: „Die Scherenfrau“ erschien im Original unter dem Titel „Rosario Tijeras’“ im Jahre 1999 und im Jahre 2002 als gebundenes Buch und 2004 als Taschenbuch unter vorliegendem Titel in Deutsch. Jorge Franco liebt Kriminalromane, ein Genre, das er seit seinem Debütroman gewählt hat („Im Garten des Teufels“ – auch von mir hier vorgestellt). Aber seine Stärke ist Humor und die Ergebnisse des Schaffensprozesses sind dann Satiren, die den Kriminalroman auf die berühmt/berüchtigte Schippe nimmt. Man spürt sein Talent für die Karikatur. Aber diesen Kriminal-Roman gestaltet er liebevoll spöttisch.

Der Plot der Geschichte ist einfach: Der Roman folgt dem Muster des „literarischen Whodunit“, das auf den Amerikaner Edgar Allen Poe zurückgeht. Poe ist auch ein Thema, denn die Handlung des Romans spielt sich während einer Konferenz über den Autor in Buenos Aires. Vogelstein ist Brasilianer und Einzelgänger (also kein typischer Brasilianer), der statt unter Menschen, schon immer unter Büchern gelebt hat und Poe liebt. Er fasst den Entschluss, sein alltägliches Leben einfach einmal hinter sich zu lassen und fährt nach Buenos Aires. Dort quartiert er sich im selben Hotel ein wie die drei renommiertesten Poe-Spezialisten der Welt. Schon am ersten Abend geraten sich die Koryphäen in die Haare und in jener Nacht wird eine von ihnen tot in ihrem Blut gefunden.

Jorge Luis Borges (auch von mir hier vorgestellt) ist der wirkliche Held dieses Romans. Er ist dafür bekannt, dass der Grande der argentinischen Literatur ein großer Fan von Science- Fiction, Fantasy und Pulp Fiction war. Der Mord findet auf der oben genannten Konferenz statt (Edgar Allen Poe war einer von Borges‘ Lieblingen), so dass Borges (eine reale Person) fiktiv an einer fiktiven Konferenz teilnimmt, auf der ein echter Autor studiert wird, den Borges wirklich zu seinen Einflüssen zählte. Wie es sich für einen Krimi gehört, ermittelt auch ein Kommissar; nämlich Kommissar Cuervo (zu Deutsch: der Rabe – auch eine Poe-Anspielung). Er übernimmt die Ermittlungen und steht vor einem Rätsel. Doch er ist ein Freund des berühmten Schriftstellers Jorge Luis Borges. Dieser ist zwar blind, verfügt aber über seherische Fähigkeiten. Schon bald muss sich Vogelstein eingestehen, dass er nicht so unschuldig ist, wie er sich einredet …

Schlussbemerkungen: Mit Lateinamerikanischer Literatur verbinden wir hier in Deutschland häufig immer noch Werke des Magischen Realismus á la Marquez… das ist gewiss großartige Literatur gewesen, aber nicht einmal im Heimatland des Nobelpreisträgers wird heute noch Magischer Realismus geschrieben; Brasiliens Autoren hatten eh sehr wenig mit dem Magischen Realismus am berühmten Hute. Dieser Roman wäre – wenn das nötig wäre – ein Beleg dafür, dass Verissimo – aus einer Zeit stammend, in der Magischer Realismus auf dem Gipfel der Popularität gewesen ist – eher satirische Krimis mit jeder Menge witziger, rätselhafter oder auch zweideutiger Anspielungen schrieb, welche die Leserinnen und Leser immer mit einbeziehen.

Ich lese viel und es gibt bestimmte Dinge, die ich von jedem Buch haben möchte: Unterhaltung, Inspiration, Lesevergnügen… es darf auch ruhig die eine oder andere Provokation oder hin und wieder ein Ärgernis dabei sein, doch langweilen sollten Bücher mich nicht. Die Strategie des Vergleichs zwischen Realität und Fiktion und der Mischung aus beidem ist meisterhaft. Verissimo erzählt – wie immer – unglaublich unterhaltsam. Das vorliegende Werk erfüllt alle meine Erwartungen. Dieses Buch ist eine Hommage an Borges und Borges‘ Fiktion, und Verissimo bewundert seinen argentinischen Kollegen und er versteht es meisterhaft, Borges als Figur in seiner Borges-Hommage zu verwenden. Der Roman ist sehr empfehlenswert.