Karl Kraus – Die letzten Tage der Menschheit
Taschenbuch: 616 Seiten
Verlag: Jazzybee Verlag – Aus September 2016
ISBN-10: 3849683044
ISBN-13: 978-3849683047
Hellsichtig und zeitlos… leider.
Nach einer langen Periode der gutnachbarlichen Beziehungen hier in Europa und meist freundschaftlichen Beziehungen zu den meisten Ländern auf diesem Planeten, wundern sich doch viele Menschen über das Aufkommen nationalistischer Tendenzen und populistischer Parteien oder Staatoberhäupter. Viele Menschen, besonders ältere Leute, warnen, dass man „den Anfängen wehren“ solle. Dann stellt sich natürlich die Frage nach diesen Anfängen und häufig bleiben die Fragenden ratlos. Es werden zu viele närrische Antworten gegeben und nur an Symptomen herumgedoktert, anstatt nach Ursachen zu forschen.
In dieser Zeit könnte man die alte Sentenz von „aus der Geschichte lernen“ einmal sinnvoll bemühen. Und schon stellt sich die nächste wichtig Frage: Wer soll unser Lehrer sein? Und hier kommt nur jemand in Frage, der über jeden Verdacht erhaben ist, irgendeiner Partei, einer Ideologie oder gar Religion das Wort zu reden – besser noch, jemand der all den genannten Adressen jederzeit kritisch gegenüberstand und – noch besser – der diesen Institutionen immer sagte, was genau er von ihnen hielt. Für die Position des „Lehrers in jüngerer Geschichte“ könnte keiner so geeignet sein wie Karl Kraus.
Karl Kraus (1874 – 1936) war einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller am Beginn des 20. Jahrhunderts, der aus dem 19. Jahrhundert kommend erfahren musste, auf was dieses nationalistische Gehabe und die großmäulige Hetze gegen Andersdenkende, Andersgläubige und Volksgruppen führte. Er studierte Jura, Philosophie und Germanistik und wurde schließlich Journalist. Am 1. April 1899 (kein zufälliges Datum) gründete Karl Kraus seine eigene Zeitschrift „Die Fackel“. In der Vorrede zur „Die Fackel“ sagt er sich von allen Rücksichten auf parteipolitische oder sonstige Bindungen los. Von Anfang an war Karl Kraus nicht nur der Herausgeber, sondern auch der Autor der meisten Beiträge. Ein weitere Qualitätsmerkmal ist die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933; sämtliche Schriften von Karl Kraus wurden von den Nazis ins Feuer geworfen.
Zum Buch: Karl Kraus konzipierte „Die letzten Tage der Menschheit“ als „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“. Das Theaterstück entstand in den Jahren 1915 bis 1922 und gilt als die Reaktion von Kraus auf die Greul, die Unmenschlichkeit und die Absurdität des Ersten Weltkriegs. Karl Kraus benutzte Stoff, der vielfach authentischen zeitgenössischen Quellen entnommen ist; das ganze Stück ist aus Ansprachen, Briefen, militärischen Tagesbefehlen, Zeitungsmeldungen montierte
Die Schwierigkeit bei einer eventuellen Aufführung des Originalstücks besteht nicht nur in der unendlichen Länge des Dramas, sondern auch darin, dass eine Unzahl von Protagonisten (Hofbeamte, Offiziere, Soldaten, Kriegsberichterstatter, Zeitungsverkäufer, Kleinbürger, Adelige, Spekulanten und Kriegsgewinnler, Händler, Blumenfrauen, Bettler, ein Patriot und sogar Karl Kraus‘ Alter Ego, ein Nörgler) auftreten und es keine fortlaufende Handlung gibt. Vielmehr werden – ähnlich der Textmontage – zweihundertzwanzig Szenen, in die genannten Protagonisten auftreten, an wechselnden Handlungsorten (Wohnungen, Gaststätten, Festsälen, Büros, Kasernen, Lazaretten und Schützengräben) hintereinandergestellt.
Schlussbemerkungen: Ich hoffe, dass mit diesem Text kein falscher Eindruck über „Die letzten Tage der Menschheit“ entstanden ist. Es geht in dem Drama weniger um blutige Szenen von der West- oder Ostfront, sondern mehr um Dummheit, Verlogenheit und Gedankenlosigkeit, die in den Schlamassel geführt haben. Karl Kraus nimmt die hohlen Phrasen nationalistischer kaisertreuer Offiziere ebenso aufs Korn, wie die Skrupellosigkeit der Rüstungsproduzenten und Kriegsgewinnler und – nicht zu vergessen – auch seine sensationsgeilen Journalisten-Kollegen bekommen ihr Fett weg.
Aus der Geschichte lernen… über hundert Jahre nach der Entstehung hat dieses Antikriegsdramas von Karl Kraus, hat das Stück nichts von seiner Wirkung, Bedeutung und leider auch seiner Aktualität (irgendwo auf der Welt und in Europa) eingebüßt. Wie kaum ein anderer hat Karl Kraus es verstanden, seine scharfe Gesellschaftskritik und seine eindringliche Warnung vor dem Krieg, mit so viel Witz und Sarkasmus in die Form einer Satire zu gießen, gegen die es kein Gegenmittel gibt und bei es sich das Gelächter – das ständig auszubrechen droht – noch einmal rechtzeitig überlegt und stumm bleibt. Ich wünschte, um auf meine Einleitung zurückzukommen, dass die nationalistischen Dummschwätzer und großmäuligen Populisten das mal lesen… was aber sicher nicht geschehen wird, weil sie mit solchen Texten – außer Feuer machen – nichts anzufangen wissen.