Ketzer“

Leonardo Padura – Ketzer

Gebundene Ausgabe: 656 Seiten

Verlag: Unionsverlag; Auflage: 2 (10. März 2014)

ISBN-10: 3293004695

ISBN-13: 978-3293004696

Hoffnungen und Illusionen

Als bekennender Leser großer Literatur und relativ geübter Rezensent, bewundere ich Kollegen*innen, die JEDES aktuelle Werk auf Anhieb durchdringen und besprechen können. Mir will das einfach nicht gelingen, denn ich brauche bei manchem Buch oft ebenso viel Zeit es zu verstehen, wie der Autor brauchte, um es zu verfassen. Ein Beispiel dafür liegt hier vor. In einem Interview sprach Padura davon, dass er ca. zehn Jahre (sicher nicht ununterbrochen) an diesem Roman gearbeitet hat und ich – Leser der Erstausgabe – fühle mich erst heute in der Lage, eine einigermaßen fundierte Besprechung zu verfassen.

Im dem schon erwähnten Interview sagte Padura auch, dass die Geschichte dieses Romans ihn gefunden habe – nicht umgekehrt, was ja bedeuten würde, dass er danach gesucht hätte. Nun, mir ging es während des Lesens ebenso: Ich habe in diesem Roman, der eigentlich aus drei Geschichten besteht, meine Geschichte gefunden. Dabei zeichnet es Padura aus, dass diese Geschichte erst in der Verbindung mit anderen Geschichten ihre wahre Bedeutung und Reichweite entfalten kann. Das trifft dermaßen gut zu meiner Philosophie der Interdependenz, dass dieses Werk quasi ein Lehrbuch der Interdependenz sein könnte.

Zu Leonardo Padura muss man eigentlich seit Jahrzehnten nichts mehr sagen, denn er ist ein international gefeierter Autor und eine nationale literarische Größe geworden; er repräsentiert aktuell (fast) im Alleingang die großartige nationale Literatur Kubas. Leonardo Padura (LP) 1955 in Havanna geboren… mitten hinein in die Zeit des Guerilla-Kriegs der kubanischen Revolution gegen den Diktator Battista. Als die Revolution siegt, ist LP vier Jahre alt. Eine der ersten Maßnahmen der Revolution war die Alphabetisierungs-Kampagne von 1961 und die Errichtung eines flächendeckenden, kostenlosen Schulsystems, in dessen Genuss LP kommt. Er selbst gibt zu Protokoll, dass er zwar die gesamte Schulzeit über, einen einseitigen Blick auf die Wirklichkeit beigebracht bekam, aber auch, dass er eine ausgezeichnete fachliche Ausbildung genoss. In der Oberstufe entdeckte er die Literatur für sich und so begann er ein Philologie-Studium, das er 1980 als diplomierter Philologe abschloss.

Kurz nach seinem Abschluss, begann er als Journalist bei der berühmten Zeitschrift „El caimán barbud“. Die Arbeit gefällt ihm und er bezeichnete die Redaktion als Paradies… in dem man allerdings ständig kontrolliert und zensiert wurde. Offenbar war er nicht bereit, der Macht nach dem Munde zu schreiben und so wurde er zum Magazin „Juventud rebelde“ strafversetzt. 1989 wurde er Chefredakteur von La Gaceta de Cuba und begann Kriminalromane zu schreiben, für die er in Spanien Verleger und Anerkennung fand. LP verfasste neben seinen bekannten Krimis, literaturwissenschaftliche Essays, Erzählungen und weitere Romane. Er lebt und arbeitet weiterhin in Havanna.

Zu diesem Titel: Der Roman erschien im Original 2013 und ein Jahr später in deutscher Sprache. An dieser Stelle möchte ich auch einmal ein Lob für die Übersetzungsleistung aussprechen, Hans-Joachim Hartstein (der mir eher aus der Krimi-Szene bekannt ist – Leo Malet – auch von mir hier vorgestellt), hat den ca. 650 Seiten-Roman in Rekordzeit glänzend übersetzt. Wie ich oben schon kurz erwähnte, besteht dieser Roman aus drei sehr geschickt miteinander verbundenen, besser gesagt, verwobenen Geschichten, die zwar in weit auseinanderliegenden Zeiten spielen, aber mindestens wiederum drei verbindende Konstanten aufweisen. Sicher war es nicht LP, der das „Rezept“ für diese Art Romane erfunden hat (vorher war z.B. Roberto Bolano – „2666“ – auch von mir hier vorgestellt), nicht einmal für die Art dabei auch noch drei verschiedene Genres in ein Werk zu fassen (das tat schon vor ihn z.B. Daniel Chavarria in „Die sechste Insel“ – auch hier von mir vorgestellt), aber LP wendet das Rezept meisterlich an.

Ich will nicht so vermessen sein, im Rahmen dieser Besprechung alle drei Geschichten, deren Verknüpfungen, Erzählebenen und -zeiten minutiös schildern zu wollen; zumal solche Romane nur selbstgelesen verstanden werden können, da Rezeptionen höchst individuelle Angelegenheiten sind. Wenn ich oben schon das Bild eines Rezepts verwendete, kann ich ja – um im Bilde zu bleiben – die Hauptzutaten beschreiben, aus denen das Werk besteht. Zunächst die Romanzeiten: Da haben wir es mit historisch verbrieften und fiktiven Zeiten zu tun, die sich von Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart erstecken. Bei den Protagonisten verhält es sich ebenso wie bei den Zeiten, sie sind teils historische Personen, teils fiktive Charaktere. Die drei Genres umfassen den Historischen Roman, den Detektivroman und den Künstleroman.

Wie man schon am letzten Absatz erkennen kann, haben wir hier eine sehr komplexe Struktur vor uns, die aufzulösen hier unmöglich ist. Unter dem Titel versammeln sich historische und fiktive Personen, denen eines gemeinsam ist: Sie sind Ketzer – also Menschen, die gegen die Bevormundung von Denkmustern, Religionen oder politischen Systemen in all ihren Formen kämpfen und nach der Wahlfreiheit und die geistige Unabhängigkeit des Individuums streben. Aber, orientiert an der Verlagsbeschreibung, kann man folgende Grundgeschichten finden:

Die erste Geschichte ist ein auf historischen Fakten basierender Bericht, in dessen Zentrum die Geschichte um das Transatlantik-Passagierschiff MS St. Louis steht, die der Hamburger Reederei HAPAG gehörte. Der Weltöffentlichkeit wurde die St. Louis durch ihre Irrfahrt mit jüdischen Emigranten Mitte Mai bis Mitte Juni 1939 bekannt. Das Schiff verließ am 13. Mai 1939 Hamburg zu einer Sonderfahrt mit Ziel Kuba. An Bord befanden sich 937 Passagiere, nahezu ausnahmslos deutsche Juden, die ein halbes Jahr nach den gewalttätigen Ausschreitungen des Novemberpogroms aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflüchtet waren. LP lässt im Roman einen gewissen Daniel Kaminsky im Hafen auf seine Eltern und seine Schwester warten, denen – wie fast allen anderen – die Einreise verweigert wurde. Schließlich musste der Kapitän einer Order aus Hamburg folgen und nach Europa zurückkehren.

Die zweite Geschichte spielt im historischen Amsterdam des Jahres 1648: Ein gewisser Elias ist ein Schüler eines gewissen Rembrandts (damals schon ein berühmter Maler). Elias ist Jude und sollte eigentlich die strengen Bildervorschriften des Judentums befolgen. Denn die orthodoxe Auslegung des biblischen Bilderverbots nimmt auch die Malerei nicht aus, obgleich eigentlich nur die figürliche Darstellung mit Verbot belegt ist. Wie dem auch sei, der mächtige Rabbinerrat der sehr reichen Stadt Amsterdam, verstößt Elias aus der jüdischen Gemeinde und somit aus der Stadt. Der wegen seiner Leidenschaft zu malen Verstoßene geht aber nicht mit leeren Händen, denn vom Meister Rembrandt persönlich erhielt er zum Abschied, ein Heiligenbild, ein Jesus-Portrait, für das Elias Modell gesessen hatte. In den Augen der Rabbiner ein Ketzer.

Die dritte Geschichte spielt in der Gegenwart eines Londoner Auktionshauses. An sich sind solche Häuser immer für eine Sensation gut – meistens entpuppen sich diese Sensationen dann als Skandale. Oft werden dort Kunstwerke zur Versteigerung angeboten, deren Provenienz unklar ist oder direkt nach Raubkunst aussehen. Diese Kunstwerke wurden von den Nazis meist reichen Juden als Lösegeld abgepresst oder nach der Verschleppung der Besitzer in Lager, einfach gestohlen. In der Gegenwart kommen solche Werke aus den Händen der Täter, in die Hände der übernächsten Generation und diese versuchen dann, zu verkaufen was ihnen nicht gehört.

Diesmal allerdings sieht vieles nach einer wirklichen Sensation auf dem Kunstmarkt aus: Ein Gemälde von Rembrandt aus dem Jahr 1647 ist aufgetaucht, das sich seit dem siebzehnten Jahrhundert im Besitz der Familie Kaminsky befindet. Wer aber ist diese Familie? Wer ist der wirkliche Eigentümer? Nun kommt ein gewisser Mario Conde ins Spiel. Er wird von einem gewissen Daniel Kaminskys aufgesucht, ei­nem jüdischen Künstler aus New York, der die Geschichte dieses Gemäldes erfahren möchte, die – wie er vermutet – auch mit seiner Familiengeschichte korrespondiert. Mario Conde, schon lange kein Ermittler mehr, sondern (recht erfolgloser Antiquar) brauch dringend Geld und nimmt deswegen diesen Auftrag an. Der Fall führt ihn durch die Jahrhunderte, durch die Gesellschaftsordnungen, Religionen und um zieht sich um die halbe Welt.

Schlussbemerkungen: Ich gebe zu Protokoll, dass ich ein Padura-Fan bin, seit ich 1991 den ersten Band des berühmten Havanna-Quartetts in Händen hielt. Und ich bin natürlich ein Conde-Fan, seit dieser Ermittler in besagtem Quartett die Bühne der Weltliteratur betrat. Insofern wird man von mir keine objektive Aussage erwarten dürfen. Natürlich würde ich etwas bodenlos Schlechtes nicht hochjubeln, aber das ist bei LP nie nötig gewesen, denn er war und ist, seit er hierzulande in Erscheinung getreten ist, ein versierter Erzähler und wunderbarer Romancier. Man kann ein jedes seiner Bücher bedenkenlos zur Hand nehmen und wird ein wunderbares Leseabenteuer erleben. Das gilt auch und gerade für diesen Roman.

LP ist hierzulande hauptsächlich wegen seiner Krimis bekannt. Wer hier allerdings einen seiner klassischen Krimis erwartet, sieht sich enttäuscht, denn wie ich oben schon erwähnte, schuf LP zwar nicht eben eine Singularität in der Weltliteratur, so doch aber ein Meisterwerk der Romankunst, die mehrere Genres in sich vereinigt. LP hat über viele Jahre an diesem Roman gearbeitet, gründlich recherchiert und beschreibt die Verfolgung der Juden seit dem siebzehnten Jahrhundert und führt den Leser durch Amsterdam, Kuba und die Vereinigten Staaten. »Die Geschichte ist nicht nur ein Szenario, ich verwende sie, um das zeitgenössische Kuba und die westliche Welt besser zu verstehen«, sagt Padura und ich füge hinzu, wir Leser*innen lernen von ihm.

Rezensenten, besonders die geübten, wissen, dass man bei der Verwendung von Superlativen besonders vorsichtig sein muss. Allzu schnell schleifen sich solche Formulierungen ab, werden gewöhnlich und entleert, bis sie als Worthülse gar nichts mehr auszusagen wissen. Eingedenk dieser Erfahrung scheue ich mich dennoch nicht zu sagen, unter den Top 10 aller von mir jemals gelesenen Romane sind zwei von Leonardo Padura rangieren – einer der beiden Romane ist dieser hier