Martin Caparros – Hunger
288 Seiten – Gebundene Ausgabe
Verlag: Suhrkamp – Aus Aug. 2015
ISBN-10: 3518425129
ISBN-13: 978-3518425121
Das größte lösbare Problem der Menschheit
Diejenigen, die meine Rezensionen regelmäßig lesen, werden meine Affinität zu Lateinamerika kennen (und hoffentlich schätzen). Sie werden erwarten, dass ich ihnen etwas aus der Belletristik vorstelle. Aber aus Lateinamerika kommt nicht nur gute und engagierte Unterhaltungs-Literatur, sondern dort gibt es auch sehr engagierte Autoren, die eben nicht nur Literatur schreiben, sondern AUCH journalistisch tätig sind oder überaus politische Sachbücher verfassen; als Beispiele mögen zwei Namen genannt: Gabriel Garcia Marquez und Eduardo Galeano (beide auch von mir hier vorgestellt). GGM gilt nicht nur als der produktivste Journalist spanischer Sprache (siehe auch z.B. „Frei sein und unabhängig“), sondern er finanzierte aus seinen Einnahmen aus seinen Büchern die „Fundación para el Nuevo Periodismo Iberoamericano“, eine Schule des Journalismus. Eduardo Galeano war einer der schärfsten Kritiker der kapitalistischen, ausbeuterischen Weltordnung („Die offenen Adern Lateinamerikas“) und in dieser Tradition steht auch Martin Caparrós
Martín Caparrós (Jahrgang 1957) wurde in Buenos Aires/Argentinien geboren. Er ist Journalist, Autor und Übersetzer. Nach seiner Schulzeit begann er als Journalist für die Zeitung „Noticias“ zu arbeiten; sein erster Chef war Rudolfo Walsh, der als Journalist den investigativen Journalismus in Argentinien einführte. 1976, nach dem Militärputsch von General Videla, die Zeitung war schon geschlossen worden, flüchtete Caparrós nach Frankreich und nahm in Paris ein Studium der Geschichte an der Sorbonne auf, das er an Universität von Madrid mit einem Abschluss beendete. In Spanien arbeitet er mit der Zeitung El Pais und auch mit einigen französischen Medien zusammen. 1983 kehrte Caparrós in sein Heimatland zurück. Er ließ sich als Schriftsteller in Buenos Aires nieder. Heute zählt er zu den führenden Intellektuellen der spanischsprachigen Welt. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet.
Zum Buch: „Der Hunger“ erschien im Original unter dem Titel „El hambre“ im Jahre 2014 und im Jahre 2015 als gebundenes Buch unter vorliegendem Titel in Deutsch. Es handelt sich, wie gesagt, um ein Sachbuch, das die weltweite Situation hungernder Menschen kartographiert und dabei viele Aspekte berührt, die mit diesem Phänomen in Zusammenhang stehen: Elitäre Machausübung, kapitalistische (neokoloniale) Ausbeutung, dadurch erzeugte Armut (Schuldknechtschaft), ungerechte (asoziale) Verteilung von Arbeitsergebnissen und Akkumulation riesiger Vermögen (Steuervermeidung und -hinterziehung).
Inhalt: Martín Caparrós hat fünf Jahre die Welt bereist, um sein Inventar des Hungers zu schreiben. Er hat ihn in allen seinen Erscheinungsformen gesehen:
• Niger: Hier sieht der Hunger so aus, wie man ihn sich vorstellt.
• Indien: Hier hungern mehr als in jedem anderen Land der Welt.
• USA: Jeder sechste habe Probleme, sich ausreichend zu ernähren, während jeder dritte fettleibig sei.
FAKTEN
• Offiziell arm ist, wer weniger als 1,25 $ pro Tag zur Verfügung hat.
• Die Erde böte Nahrung für 12 Milliarden Menschen.
• 4 Milliarden Tonnen Lebensmittel werden jährlich produziert, 30%, 1,2 Milliarden Tonnen, landen auf dem Müll.
• Der Wehretat der USA betrug 2014 1,67 Milliarden $ pro Tag, das wären 2 $ am Tag für jeden der 0,8 Milliarden Hungernden.
• Die Landwirtschaft macht 6,6% des Bruttoweltproduktes aus, beschäftigt aber 32% der Erwerbstätigen.
• Mit 10 kg Getreide kann man entweder 1kg zehnmal an Bedürftige geben oder 1kg Fleisch herstellen.
• Der Fleischkonsum im Westen liegt bei 80 kg pro Person und Jahr, in China bei 30 kg (früher noch 14 kg)
• Ein US-Farmer produziert je Hektar Anbaufläche 2000-mal mehr als ein Bauer in der Sahelzone.
• Es ist unwahr, daß die Sahelzone sich nicht selber ernähren könnte.
• 1970 gab es 90 Millionen Unterernährte in Afrika, 2010 bereits mehr als 400 Millionen.
• Niger, das zweitgrößte Uranförderland der Welt ist bettelarm. Die Förderung kontrolliert Frankreich.
• Der IWF „überredete“ die afrikanischen Staaten zur Aufgabe ihrer landwirtschaftlichen Subventionen.
• Die europäischen Staaten und die USA gewähren in ihren Ländern landwirtschaftliche Subventionen.
Religion
In allen Hungerquartieren ist Caparrós auf eine eigentümliche Schicksalsergebenheit gestoßen. Es sei Gottes Wille, hört er von Muslimen und Christen oder es sei eine gerechte Strafe für ein schlechtes Karma von hinduistischen Gläubigen. Er habe unter den Hungernden fast keinen Atheisten getroffen, resümiert der Autor. Sind die Armen also zu religiös und sind es die Reichen zu wenig, denn sonst wären die einen rebellischer und die anderen solidarischer?
Armut und Hunger
haben ein und dieselbe Ursache, stellt Caparrós fest. Sie seien Ausdruck desselben Raubzuges, derselben Plünderung. Hauptursache für den Hunger in der Welt sei der Reichtum: die Tatsache, daß einige wenige sich nehmen, was viele andere dringend benötigen, einschließlich der Nahrung.
Fazit
Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete, in der spanischsprachigen Welt bekannte Intellektuelle Caparrós hat ein Buch ohne Patenrezept vorgelegt. Als Kartographie des Missstandes kann es ein Anstoß sein zur Reflektion in den reichen demokratischen Ländern der Welt. Caparrós verschafft seinen westlichen Lesern das ihrer Behaglichkeit abträgliche Gefühl dafür, wie sehr europäische und amerikanische Unternehmen vom Status-quo profitieren.