Reformen. Laut der entsprechenden Begriffserklärungen allgemeiner Nachschlagewerke, ist unter dem Begriff Reform ganz allgemein der Versuch zu verstehen,
eine Verbesserung der bestehenden Zustände herbeizuführen. Niemand, der sich auch nur ein wenig mit der aktuellen Krise beschäftigt hat, wird abstreiten,
dass es mindestens nötig ist, der Bedeutung des Begriffes nach, eine Reform des Finanzsystems durchzuführen. Leider muss man heutzutage im Zusammenhang mit
dem Begriff Reform hinzufügen, dass man ihn in des Wortes Bedeutung gebraucht, denn jene die hauptsächlich an der Verursachung der Krise schuld sind, haben
das Positive an dem Begriff gründlich zerrüttet, so dass (laut einer repräsentativen Umfrage) 4/5 der Deutschen mit Reform eher etwas Schlechtes verbinden;
was eben ihren Erfahrungen der letzten Jahre entspricht.
Dieses Misstrauen ist verständlich, gehen doch die meisten Menschen – nach den Erfahrungen der letzten Jahre – davon aus, dass es ihnen nach einer Reform
nicht besser geht oder Missstände nicht beseitigt wurden. Aber genau das ist nötig und genau das ist der ursprüngliche Sinn von Reformen. In einem über 200
Jahre alten Wörterbuch, in „Adelungs Grammatisch-kritischen Wörterbuch“ ist der Begriff Reform – anders als mit der wachsweichen Erklärung der aktuellen
Nachschlagewerke – so definiert: „Reformieren – durch Abstellung der Missbräuche und Irrtümer verbessern“; was auch der etymologischen Herkunft entspricht,
da das Wort reformieren aus dem lateinischen formare hergeleitet ist, das „gestalten, bilden“ bedeutet.
Gestalten und bilden nun, sind aber schlechterdings Begriffe, die ein planvolles Herangehen, ein zielgerichtetes Handeln, ein aktives Streben eines
Souveränen zum Ausdruck bringen. Was wir in den letzen Jahren an Reformen erleben mussten war alles andere als das. Der Souverän, also nach unserer
Verfassung das Volk, war aus dem politischen Handeln weitgehend ausgeschlossen oder wurde – medial wirkungsvoll beeinflusst – vom Handeln abgehalten.
Kleine (medien-)mächtige Interessengruppen haben das Heft des Handelns an sich gezogen und ihre Interessen – als Reform deklariert – zur vorherrschenden
Politik gemacht. Das Ergebnis war und ist entsprechend.
Nun ist im Zusammenhang mit der Finanzkrise wieder von Reformen die rede… diesmal soll das Finanzwesen reformiert werden. Und schon regt sich der Verdacht,
dass es wieder nicht dazu kommen wird, den Begriff im Sinne von Abstellung der Missbräuche und Irrtümer zu verwenden. Stattdessen haben schon wieder eher
diejenigen (eine kleine Minderheit) das Wort, welche den Irrtum (der Markt regelt alles – der Staat soll sich raushalten) zur Staatsdoktrin machten und
denen genau diese Missbräuche riesige Profite einbrachten; auf Kosten der überwiegenden Mehrheit des Volkes. Gewiss, das hört sich ziemlich desillusioniert
und pessimistisch an, doch leider beruht diese Sicht auf die Lage auf Erfahrungen.
Seit 150 Jahren versuchen es politische Parteien mit Reformen, einer schrittweisen Verbesserung ökonomischer, sozialer und politischer Verhältnissen… sie
versuchen die in einem gegebenen System liegenden Möglichkeiten zu nutzen, um das System in Teilen zu ändern. Langfristig, so die Grundhaltung, könnten
Reformen zum gleichen Ziel führen, das die Befürworter revolutionärer Aktion in einem Schritt erreichen wollen. Im Prinzip stimmt diese reformistische
Haltung auch – jedoch geht sie von der (falschen) Annahme aus, dass das alle gesellschaftlichen Gruppen auch wollen. Ein Blick auf die Geschichte belegt,
dass gerade die mächtigsten gesellschaftlichen Gruppen immer nur dann Zugeständnisse machten, wenn ihnen nichts mehr anderes übrig blieb; z.B. kurz vor
revolutionären Zuständen. Später, wenn sich die Lage wieder beruhigt hatte, wurden die Zugeständnisse zum überwiegenden Teil wieder kassiert.
Nicht selten geschah und geschieht das mittels massiver Gewaltanwendung. Kriege/Bürgerkriege als Mittel zur Lösung zur kapitalistischen Krise, sind
Maßnahmen zum Ausrauben anderer Völker, zur Zerstörung von Kapitalien, zur Ausbeutung der eigenen Bevölkerung und zur Vernichtung von Konkurrenz. Sie sind
und waren immer das letzte Mittel zur Bewältigung von Krisen des eigenen Systems und aktuell könnte es auch wieder dazu kommen; ob man das nun Krieg gegen
den Terror nennt oder Internationale Konkurrenzfähigkeit – die Wirkung ist dieselbe.
* * *
Der folgende Text soll sich mit einem Mann beschäftigen, der sich auch darüber Gedanken gemacht hat und diese Gedanken in einem Stück Literatur
verarbeitete, das ganz und gar dieselbe Desillusioniertheit aufweist, wie sie in den einleitenden Absätzen zum Ausdruck kommt. Es ist ein Mann aus
Montevideo/Uruguay, der eben auch aus seinen Erfahrungen heraus geschrieben hat. Zum Glück hat er sich zuvorderst mit der Schriftstellerei beschäftigt und
nicht mit Politik, da uns sonst möglicherweise ein Werk vorenthalten geblieben wäre, das einerseits seines Gleichen sucht und das andererseits
ausschlaggebend für das verantwortlich ist, was wir Heutigen ganz allgemein die moderne Lateinamerikanische Literatur nennen. Umso erstaunlicher ist es,
dass dieser Mann so weitgehend unbekannt geblieben ist. Das möchte ich mit diesem Beitrag, wenigstens zum Teil, beheben und diese Besprechung eines seiner
frühen Romanen seinem Lebenswerk widmen; zumal sich letzten Monat sein 100. Geburtstag jährte. Bei diesem Mann handelt es sich um Juan Carlos Onetti (kurz
JCO), den ich mit seinem Roman „Für diese Nacht“ vorstellen möchte, der eben just zu seinem 100. bei Suhrkamp erschien.
Diesen Lateinamerikaner in seinem gesamten Schaffen zu würdigen bin ich sicher nicht der Richtige. Dazu ist es dann sicher auch legitim, vielleicht
erforderlich, etwas weiter auszuholen und auch einige bekannte Stimmen zu zitieren. In einer jüngst veröffentlichten Kurzbiographie steht zu lesen: „Eine
nicht organisierte Gruppe unbekannter und einflussloser Menschen vertritt die Ansicht, das größte Verhängnis von JCO sei seine nationale Herkunft gewesen.
Wäre er nicht in Terra incognita zur Welt gekommen, sondern in einem Land mit der wirtschaftlichen Kraft und dem politischen Gewicht, welche nötig sind, um
Kultur mit Erfolg zu exportieren, dann wäre er nicht nahezu inkognito gestorben. Wäre seine Geburtsstadt nicht Montevideo/Uruguay, sondern beispielsweise
Buenos Aires, dann wäre heute nicht Jorge Luis Borges, sondern Juan Carlos Onetti weltweiter Inbegriff und Superstar der lateinamerikanischen Literatur.“
Die immense Bedeutung des Werkes von JCO belegen die Aussagen derer, die es von Berufs wegen am besten wissen: Schriftstellerkollegen. Fast alle
Lateinamerikanischen Autoren, die im 20. Jahrhundert mit ihrer Literatur berühmt wurden und auch solche, die uns fortgesetzt die Freude machen, uns mit
ihren Werken zu begeistern, berufen sich auf JCO, bezeugen seinen Einfluss oder äußern sich bewundernd, wenn nicht gar ehrfurchtsvoll. Das kommt dann
beispielsweise zum Ausdruck, wenn José María Arguedas, ein Klassiker aus Peru (auch hier bei Ciao vorgestellt), äußert: „Onetti bebt bei jedem Wort,
harmonisch. Ich käme gerne nach Montevideo (ich bin in Santiago), unter anderem, um ihn zu grüßen, ihm die Hand zu drücken, mit der er schreibt. So ist
es.“ Der Mexikaner Carlos Fuentes (auch hier bei Ciao vorgestellt) meinte, dass das Werk von JCO das Fundament der Lateinamerikanischen Moderne sei. Selbst
der große Gabriel García Márquez (auch hier bei Ciao vorgestellt) äußert sich ähnlich beeindruckt. Und schließlich sagt der Argentinier Julio Cortázar
(auch hier bei Ciao vorgestellt), und selbst einer der Großen der Lateinamerikanischen Literatur, JCO sei schlicht der größte Schriftsteller
Lateinamerikas.
* * *
Umso erstaunlicher ist, dass ihn hierzulande fast niemand kennt; obwohl die meisten seiner Bücher inzwischen auch ins Deutsche übersetzt und hier
veröffentlicht wurden. Dieses erstaunliche Faktum, doch nicht nur dieses, macht es wohl erforderlich, diesen Schriftsteller etwas genauer vorzustellen. Wie
immer, möchte ich deshalb – und weil es für das Verständnis seines Werkes sehr hilfreich ist – der eigentlichen Besprechung einige biographische Daten
voranstellen, damit man sich ein genaueres Bild des Menschen machen kann, der über seine Erzählungen zu uns spricht: Allgemein gilt der 1.7.1909 als
Geburtstag von JCO; was aber nicht gesichert ist, denn zu jener Zeit hatte nicht jede Familie Zugang zur staatlichen Infrastruktur (in diesem Fall dem
Geburtsregister) und somit gibt es keine Geburtsurkunde. Was allerdings sicher ist, er wurde in Montevideo/Uruguay als Sohn eines Kaufmanns geboren, der
später Zollbeamter wurde. Insofern wird man der dürftigen Auskunft des Autors trauen dürfen, wenn es sagt, dass er eine glückliche Kindheit hatte…
ansonsten ist über seine Kindheit und Jugend wenig bekannt, da uns weder eine Autobiographie, noch Tagebücher zur Verfügung stehen und er selbst nicht gern
darüber sprach, weil er das als Privatsache ansah.
Ob JCO ein begabter, fleißiger und/oder beliebter Schüler war ist uns auch nicht überliefert, fest steht jedoch, dass er 1923 die Schule ohne Abschluss
verließ, weil er – seiner eigenen Aussage nach – im Fach Zeichnen die Prüfung nicht bestanden habe. Es klingt wohl doch eher ironisch, wenn er anfügt:
„…deswegen war es mir verwehrt, beispielsweise Rechtsanwalt zu werden“. Offensichtlich liegt aber sein berufliches Interesse eh auf ganz anderen Gebieten:
dem Journalismus und der Literatur. Im Alter von 19 Jahren, gründete er in Montevideo, mit ein paar Freunden zusammen, eine kleine, anzeigenfinanzierte
Stadtteilzeitung. Sie wurde nicht alt – aber in allen Ausgaben, veröffentliche JCO auch eine kleine Erzählung; allerdings anonym. Der Autor selbst hat
diese Erzählungen einmal als „Literarische Jugendsünden“ bezeichnet.
Leben konnte JCO davon nicht und so übersiedelte er 1930 nach Buenos Aires. Aber auch da war sein Leben alles andere als Zuckerschlecken; zumal er
mittlerweile geheiratet hatte und sein Sohn zur Welt gekommen war. Er hielt sich und seine kleine Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Aber er blieb
trotz seines harten Lebens (oder vielleicht gerade deswegen…) der Literatur treu und 1933 erhielt er für eine seiner Erzählungen eine Prämierung bei einem
von der bekannten argentinischen Zeitung La Prensa ausgeschriebenen Literatur-Wettbewerb; damit betrat er nun offiziell die Literaturbühne. 1934 – nach
seiner Scheidung – kehrt JCO nach Montevideo zurück, aber auch hier findet er keine feste Anstellung, schreibt aber weiter für eine argentinische Zeitung.
Ab 1939 erschien in Montevideo die Wochenzeitung Marcha; anfangs eher konservativ, entwickelte sie sich die Zeitung zu DEM Sprachrohr der Linken des
gesamten Kontinents. JOC wird Redaktionssekretär und schreibt zum erstmals professionell. Ein Kollege, der Dichter Carlos Cunha, betrieb zu dieser Zeit
eine kleine Druckerei und verlegte selbst eine Lyrik-Edition. Ende 1939 erschien in diesem Kleinstverlag der erste Roman von JCO „Der Schacht“ – 100
Seiten, auf Packpapier gedruckt, 500er Auflage (die letzten 101 Exemplare wurden 1964 auf Anfrage an JCO zurückgegeben). Auf den Verkaufserfolg seiner
Bücher angesprochen, sagte JCO gelegentlich: „Ich wechselte von Buch zu Buch den Verlag. Um die Verluste zu verteilen.“
Ab 1940 ging es für JCO beruflich bergauf, er wird Redakteur bei der Nachrichtenagentur Reuters und ein Jahr später übernimmt er die Leitung der
Reuters-Dependance in Buenos Aires. Bis 1957 bleibt er in wechselnden Engagements dem Journalismus verbunden, dann wird er Direktor der Städtischen
Bibliotheken von Montevideo. Er bleibt bis 1974 in dieser Position. Nun hat JCO Gelegenheit sich ausgiebig und hauptsächlich seinem zweiten
Interessengebiet zu widmen, dem er sich all die Jahre nur nebenher zuwenden konnte: Literatur. Erste nationale und internationale Erfolge stellen sich ein;
so erhielt er 1962, zusammen mit Francisco Espínola, den Uruguayischen Nationalpreis für Literatur. Um JCO zu charakterisieren, eignet sich die Dankesrede
anlässlich der Preisverleihung: Nach dem Espínolas seine lange Rede beendet hatte, erhob sich JCO und sagte lediglich: „Ich rede nicht, ich schreibe.“
Seine Werke werden nun in Frankreich und Spanien veröffentlicht. Auf Einladung des PEN Club bereist JCO die USA und macht sich damit bekannt; was sich noch
als sehr nützlich herausstellen sollte.
Nach einem Militärputsch, verbieten die Zensoren der Militärjunta die linke Zeitung Marcha und die uruguayische Militärjunta inhaftiert deren Gründer
Carlos Quijano. Auch JCO und andere kommen in Haft; JCO hatte als Juror des Marcha-Literaturwettbewerbs ein Buch ausgezeichnet, das als Parabel auf die
Diktatur verstanden wurde. Die Anklage lautet: „Förderung der Pornographie“. JCO ist in internationalen Fachkreisen nun schon bekannt und nach
internationalen Protesten kommt JCO nach drei Monaten frei. Die Militärs haben sozusagen unfreiwillig dafür gesorgt, JCO noch bekannter zu machen. In
Italien erhält JCO erstmals eine internationale Auszeichnung und er reist das erstmals durch Europa. Bei seiner Rückkehr wird sein Reisepass konfisziert.
Im April 1975 nutzt JCO die Genehmigung einer Wochenend-Reise nach Buenos Aires, um sich nach Spanien abzusetzen. Zunächst arbeitet er wieder als
Journalist und schreibt für die Nachrichtenagentur Efe einmal pro Monat einen Artikel über internationale Politik und das Kulturgeschehen.
„Lassen wir den Wind sprechen“, sein wohl berühmtester Roman erschien 1979 und war auch ein wirtschaftlicher Erfolg. Was aber wichtiger war, er brachte JCO
sozusagen auch akademische Anerkennung als Schriftsteller. Er hielt Vorträge an Universitäten; von der Sorbonne in Paris, bis zur Universidad de Veracruz
in Mexiko. 1981 erhielt JCO dann den Ritterschlag: Den Cervantes-Preis, die höchste Auszeichnung für Schriftsteller spanischer Sprache. Mit dem Preis,
erhielt JCO auch die spanische Staatsbürgerschaft. Auf die Frage eines Journalisten, was ihm der Preis bedeute, antwortet er: „Zehn Millionen Peseten.
Genug Geld, um endlich frei von finanziellen Sorgen schreiben zu können.“ Der PEN Club Lateinamerika nominiert JCO erstmals für den Nobelpreis; den er
allerdings nie erhalten wird.
1984 hatten in Uruguay die Militärs abgewirtschaftet und sie überließen – wie üblich nach Diktaturen – das Aufräumen den Demokraten; mit anderen Worten: es
fanden wieder demokratische Wahlen statt. Julio María Sanguinetti, der neue Präsident, lud JCO mehrmals zur Rückkehr nach Uruguay ein, doch JCO blieb in
Spanien. Selbst als er ein Jahr später den Uruguayischen Nationalpreis für Literatur erhielt, kehrte JCO – nicht mal besuchsweise – zurück und der
Staatspräsident sah sich gezwungen, ihm den Preis in Madrid zu überreichen.
1993 erschien sein letzter Roman „Wenn es nicht mehr wichtig ist“. Kurze Zeit später, 1994, starb JCO in Madrid. Das Titelbild von El Pais, der großen
spanischen Zeitung, zeigte am 31. Mai, JCO. Der Begleittext: „Onetti geht zurück nach Santa María. – Gestern starb Juan Carlos Onetti, einer der größten
lateinamerikanischen Schriftsteller. Seit mehr als einem Jahrzehnt lebte er zurückgezogen in seiner Wohnung, ohne Lust das Bett zu verlassen. 84 Jahre alt,
geboren in Uruguay, spanischer Staatsbürger, Autor von Der Schacht und Schöpfer des literarischen Kosmos‘ Santa María, eines Werkes, ohne das die
zeitgenössische Erzählkunst undenkbar ist.“ Der unbeugsame Mann, musste sich letztlich – wie alle – nur dem Tod beugen und er blieb dennoch auch über den
Tod hinaus unbeugsam… Als Uruguay um die Urne bittet, wurde offenbar, dass JCO dies testamentarisch untersagt hatte; er hatte es seinem Geburtsland nie
verziehen, dass es letztlich die Militärs haben an die Macht kommen lassen.
Ende der 1960er Jahre veröffentliche Luis Harrs sein Buch „Die Unsrigen“ – eine Sammlung von Reportagen über südamerikanische Schriftsteller. Das Buch
erreichte viele Auflagen und das darin enthaltene Kapitel über JCO sollte das Bild von JCO für immer prägen – trotz Einspruch und Gegendarstellungen derer,
die ihn wirklich kannten. Darin heißt es über den Schriftsteller: „Im trägen Nieselregen, gehüllt in einen dicken Mantel, gebeugt unter dem Gewicht der
Stadt, geht er, düster, ein Nachtwandler in der schlaflosen Nacht. Wie die Stadt trägt er müde die Last der Jahre. Hochgewachsen, weiße Schläfen, graues
Haar, schlaflose Augen, verzerrte Lippen einer schmerzhaften Grimasse, hohe professorale Stirn, die Spuren des Verzichts in seinem Gang eines gealterten
Büromenschen. Protagonist eines unvollständigen Buches, das er seit Jahren schreibt und kapitelweise, mit unterschiedlichen Titeln, veröffentlicht, ein
einsamer Mann an irgendeinem Ort der Stadt, rauchend, der sich nachts zur Wand dreht, um verrückte und phantastische Dinge zu ersinnen. Er scheint ein
Waise zu sein, ohne Beschäftigung, abwesend, Missgeschicke, an denen er seit immer leidet, aufgrund eines Fehlers der Natur oder einer innerlichen
Niederlage während der Jugend‚ als er bereits mit niemandem etwas zu tun hatte. Er lebt abgeschlossen von der Außenwelt, einsam, hilflos. Es war, wie er
sagt, sein physisches und moralisches Außenseitertum, das ihn zum Schriftsteller machte, ihm zum Trotz, aus unbekannten Gründen, ausgehend von einer
Gewohnheit, die sich in Laster, in Leidenschaft, in sein Unglück verwandelte. Er trägt sein Kreuz auf hängenden Schultern, als büße er eine unbenannte und
unverzeihliche Schuld. Das ist das Bild, das wir von Onetti haben, dem Steppenwolf der uruguayischen Literatur, Bewohner jenes Ödlands, in dem laut Mario
Benedetti diejenigen leben, die verdammt sind, das definitive Scheitern jeglicher Bindung, das totale Missverstehen des Daseins, das sich Verpassen von
Sein und Schicksal zu erleiden.“
* * *
Das letztgesagte deutet an, welcher Art Roman uns mit dem Titel „Für diese Nacht“ erwartet. Wer gern an das Happyend von Geschichten oder gar der
Geschichte glaubt, braucht starke Nerven, wenn er sich in den kalten erzählerischen Kosmos des JCO begibt. So wie der Autor im letzten Absatz wurde (auch
wenn seine Freunde die Richtigkeit der Angaben bestreiten), so ist auch des Autors Menschenbild. Sicher ist er damit heutzutage schriftstellerisch nicht
allein; viele Autoren in einigen Genres pflegen dieses Sujet – mal mit Endzeitstimmung, mal mit giftigem Zynismus erzählt, gewöhnt man sich schnell an den
Stil und die Hoffnungslosigkeit schockt uns nicht mehr. Nun aber Vorsicht! JCO ist tückischer… er erzählt einfach und lakonisch, ohne jeden Zynismus. Ein
Kollege sagte: „Onettis Desillusionstechnik – bar jedes Zynismus – kommt mit der Wucht einer hinterrücks sich auftürmenden Welle daher, die den ahnungslos
im Wasser Planschenden umhaut und in eisige Tiefen zieht. Keine rettende Planke in Sicht, weder für den Leser noch für den Protagonisten, den solcher
Schlag trifft.“
Letztes Jahr habe ich hier JCO mit seinen frühen Erzählungen vorgestellt, die in dem Sammelband „Willkommen, Bob“ enthalten sind. Diese frühen Erzählungen
aus den vierziger Jahren sind noch nicht so ambitioniert wie die späteren Romane mit ihren implementierten fiktiven Welten, doch sie zeigen schon die ganze
Finesse der Erzähltechnik Onettis in der subtilen Figurenzeichnung unter Einsatz des inneren Monologs und schnellen Perspektivwechsels und vor allem in der
Verräumlichung der Zeit. Die Zeit ist ein Labyrinth, in dem die blinden Egos umherirren. Und während sie ihre Bosheiten begehen, sind deren Folgen bereits
auf dem Weg zu ihnen zurück und können ihnen an der nächsten Biegung aus fremden feindseligen Augen entgegenfiebern. Niemand, nur der Autor und durch ihn
der Leser, durchschaut diese Dialektik des bösen Eigensinns, und sie führt die Fäden des Erzählens.
Ein solches Meisterstück dialektischer Knüpftechnik ist auch Onettis dritter Roman „Für diese Nacht“ Aus Mario Vargas Llosas sehr lesenswerter
Onetti-Studie „Die Welt des Juan Carlos Onetti“ kann man erfahren, dass Onetti die Anregung zu diesem Roman dem Bericht zweier Anarchisten verdankt. Sie
berichteten ihm über die letzten Tage des Spanischen Bürgerkriegs in dem von Franco und seinen Truppen belagerten Valencia, „wo die zersplitterten
Republikaner sich gegenseitig umbrachten, bevor sie von den Faschisten überwältigt wurden“. Dort spielt auch die Handlung des Romans.
Der Roman beginnt mit einer großartigen Eröffnungsszene, die einem modernen Thriller zur Ehre gereichen würde: Eine Bar namens First and Last, mit allem
Interieur eines schmierigen Rotlicht-Milieus. Konspiratives Getuschel abgekämpfter Männer… Ein Toter im Separee. Sirenen, Rennereien, Razzia. Die
unheilschwangere Atmosphäre ist fast greifbar. Der berüchtigte Polizeichef Morasán kreuzt auf; im Schlepptau seine Folterknechte. Einer der Protagonisten
des Romans ist Ossorio – er wird gejagt und taucht ab; die Hand immer am Revolver, um sich den Weg notfalls frei zu schießen.
In diesem Dickicht aus Action versteckt Onetti sein Thema; als ob er befürchtete, man würde es ihm sonst stehlen. Aber wer stiehlt schon dieses armselige,
hoffnungslose Etwas. Wir sehen den finsteren Morasán bei seinem Folterhandwerk. Er hofft, über einen Berg von Leichen in dieser Nacht Karriere zu machen.
Den Leichenberg wird es geben… doch seine Leiche wird ein Teil davon sein. Doch das ändert nichts. Die Sache ist längst entschieden. Der faschistische
Polizeistaat (in diesem Falle, derjenige Francos) wird siegen, wie der Autor es mehrmals selbst erlebt hat. So ist das halt bei JCO: es gibt nie ein
Happyend, das Gröbere, die niederen Kräfte siegen immer bei Onetti. Ihn interessiert das Elend der anderen, die sich auf der richtigen Seite glauben und
doch immer schon Fälscher sind, immer schon Teil der verkommenen Welt aus Lüge, Gemeinheit, Verrat. Zu den Toten, die sie auf dem Gewissen haben, dürfen
sie sich schon selbst zählen, auch wenn sie noch am leben sind; was schlimmer ist.
Barcala ist oder besser war Republikaner; jetzt ist er Deserteur. Er wird von Francos Schergen und den Verteidigern der Spanischen Republik gejagt. Der
ehemalige Anführer hat sich verkrochen und Ossorio trifft ihn auf seiner Flucht in seinem üblen Unterschlupf. Barcala versucht Ossorio seine Gründe
darzulegen und ihm klarzumachen, wie aussichtslos alles ist. Der folgende Dialog klingt wie die Abdankung der Menschheit von diesem Planeten: »…ich habe
entdeckt, dass der Feind nicht von Gott oder vom Teufel gemacht worden ist, sondern von uns selbst…« In dieser Nacht hat er erkannt, dass nicht allein die
anderen »die Hunde« sind, und beschlossen, »in Einsamkeit zu verrecken«. Das Inferno, das Ende »haben wir uns verdient…, weil wir es selbst gemacht haben«.
Ossorio hört ihm zu, das Gesicht »heiß vor Scham und Hass«. Er weiß, dass Barcala Recht hat. Er weiß, dass ihn selbst der »zornige Entschluss zu rächen« in
den verbissenen Kampf für ein kollektives Glück getrieben hat, »weil das eigene Glück doch verloren, mit Füßen getreten« war. Er weiß längst, dass er
erledigt ist, dass es für ihn kein rettendes Schiff, keine Zukunft geben wird. Das Einzige, was ihn noch aufrecht hält, ist die Sorge um das Kind, Barcalas
elfjährige Tochter, die ihm zugefallen ist…. nachdem er Barcala an die Gegenseite ausgeliefert hat. Ossorio wusste, dass Barcala Recht hatte und dass er
selbst keine Zukunft hatte… und dennoch verriet er Barcala an die Faschisten um sein kümmerliches Leben zu retten
Ossorio betrachtet das Gesicht des schlafenden Kindes. »Er sah sie an, als wollte er sich selbst sehen, seine Kindheit, was er gewesen war, was in ihm
zertrampelt und blind geworden war, die verlorene Reinheit des Beginns… Er sah sie an wie in Liebe für sich selbst, mit abergläubischer Bewunderung für die
kurze Reinheit auf dem menschlichen Antlitz, mit Bedauern über den unausweichlichen Dreck, den sie durchqueren und sich einverleiben musste.« Und so wird
auch die Zukunft – Gestalt geworden in dem Kind – entweder genau so sein, wie es die Vergangenheit seit jeher… dreckig, unbelehrbar, grob, unmenschlich…
oder sie kann anders werden… wenn das Kind etwas ganz anders macht, anders lebt, auf sich aufpasst und andere Kinder (ihresgleichen) nicht verrät.
Darum geht es hier, wie immer bei Onetti: um das Leben, das »am bloßen Leben« stirbt, in den Status der Lauheit, der Banalität abgleitet und sich in endlos
leerer Verlängerung der Untoten hinzieht, die Onetti »Hölle« nennt. Der Roman ist von kristalliner Klarheit und Schönheit. Mit stupender,
traumwandlerischer Sicherheit und quasi filmischer Finesse hat Onetti die wimmelnde Topografie dieser »monströsen Nacht« im Griff, meißelt er die Wahrheit
der Figuren, ihr böses, unschuldiges Drama aus ihren inneren Monologen wie aus härtestem Granit hervor.
* * *
Eigentlich ist es wohl so gut wie überflüssig zu erwähnen, dass es für mich immer auch dann ein Leseerlebnis ist, wenn ich die alten Meister der
Lateinamerikanischen Literatur erneut lese – schon aus diesem Grunde gefällt mir der Roman „Für diese Nacht“ außerordentlich. In einer früheren Besprechung
sagte ich im Zusammenhang mit dem Lesen der JCO-Werke: Ich fühlte mich wie sich ein Detektiv fühlen muss, der, ausgehend von rätselhaften Ereignissen, den
Fall aufgerollt hat und endlich den Hintermann ausfindig gemacht hat. Die rätselhaften Ereignisse sind die Werke großer Lateinamerikanischer Autoren, der
Hintermann ist JCO. Das gilt auch für diesen Roman; ich erkannte quasi die Literatur eines ganzen Kontinents.
Da ich mich ausgerechnet diesem Kontinent kulturell sehr verbunden fühle, kann es nicht verwundern, wenn ich den Roman – selbst angesichts der
Hoffnungslosigkeit der Geschichte – nicht nur für äußerst gelungen halte, sondern ihn sogar als erhellend bezeichnen möchte. Es könnte sein, dass die
einigermaßen schaurige Handlung den Eindruck vermittelt, dass es sich hier „nur um Unterhaltung auf gehobenem Niveau“ handelt. Aber für mich ist gerade
dieser lakonisch erzählte Roman anspruchsvolle, harte Literatur, moderne Kunst. Allerdings kann ich das wohl deshalb sagen, weil ich mich generell nie der
moderneren Kunst verschloss.
Wer damit nichts am ominösen Hut hat, den wird JCO weder zu einem Anhänger moderner Kunst, noch zu einem neuen Anhänger seiner Literatur machen, die eben
auch die Hoffnungslosigkeit des endlichen Lebens nicht ausblendet; insofern halte ich es auch für ein intellektuelles Abenteuer seine Werke lesend zu
erfahren und mich so mit einem Stück Leben zu beschäftigen, mit dem man sich in der heutigen Zeit eher selten beschäftigt. Wer sich dem faszinierenden
Abenteuer des Lebens auch stellen möchte, den erwartet ein Text, der ihn überreichlich belohnen wird.
In meiner Besprechung zu „Willkommen, Bob“ schieb ich: „Ich halte das Buch für einen der seltenen Glücksmomente meines Leselebens und die Geschichten
erfreuen mich nicht wie den Macho der Blick auf ein jungfräuliches Mädchen erfreut, sondern wie der Blick auf eine reife Frau den gestandenen Mann
fasziniert. Gerade weil uns JCO mit seinen Erzählungen einen leeren Himmel hinterlässt, bietet er unser Phantasie an, diesen Himmel zu bevölkern.“ Das gilt
in besonderer Hinsicht natürlich auch für die Romane. Durch seine radikale Vorurteilsfreiheit und die sprachliche Präzision des Autors sowie die Nähe der
Handlung zur Schwarzen Serie Hollywoods, zog mich der Roman in seinen Bann. Und – um auf die Einleitung zurückzukommen – der Roman zeigt uns, dass es einen
einzigen Ausweg gibt… aber halt nur einen einzigen.
Pessoa
Für diese Nacht
Juan Carlos Onetti
230 Seiten – Gebundenes Buch
Verlag. Suhrkamp – Aus Mai 2009
ISBN: 978-3-518-42054-6
22,80 €uro
Nachsatz für Cineasten:
Der Regisseur Werner Schroeter, (»Neapolitanische Geschwister«, »Palermo oder Wolfsburg«, »Malina«), der herausragende Vertreter des deutschen
Autorenfilms, hat Juan Carlos Onettis Roman Für diese Nacht verfilmt. Sein in Portugal mit französischer Starbesetzung gedrehter Film kommt jetzt unter dem
Titel »Diese Nacht« in die deutschen Kinos.