Wieviel Geschichte braucht die Zukunft

Eric Hobsbawm – Wieviel Geschichte braucht die Zukunft

Gebundene Ausgabe: 368 Seiten

Verlag: Carl Hanser – Aus September 1998

ISBN-10: 3446194835

ISBN-13: 978-3446194830

Geschichte wird gemacht

Wenn man genau zuhört, wenn über die deutsche Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts gesprochen wird, hört man am häufigsten Sätze wie: „Es ereignete sich…“ oder „Geschichte darf sich nicht wiederholen“. Das hört sich einerseits recht harmlos an, hat aber andererseits die Wirkung, dass man sich mit solchen Formulierungen prima aus der Verantwortung stehlen kann. Wer dann etwas tiefer über das Gehörte nachdenkt, wird auf die Frage stoßen, ob etwa ein gnädiges Schicksal oder ein böses Verhängnis über uns schwebt oder ob wir doch auch etwas zum Zustandekommen von Geschichte beitragen?

Nun, wenn man etwas zu verbergen hat, nicht so gerne mit negativen Machenschaften und deren Folgen zu tun haben möchte, formuliert man in der typisch bürgerlichen Diktion. Aber seit Hegel und Marx wissen wir, dass man das auch anders sehen kann, ja anders sehen muss: Ihnen zufolge ist die Geschichte nicht das, was Menschen zustößt, sondern sie wird vielmehr von Menschen gemacht. Wir machen Geschichte sowohl mir körperlicher oder geistiger Arbeit als auch durch wissenschaftliche Tätigkeit oder politische Entscheidungen. Besonders aus letztgenannter Quelle von Geschichte folgt, dass jene Menschen, die politische Entscheidungen treffen, für die Folgen des politischen Handelns verantwortlich sind.

Soweit werden die meisten Leute auch noch mit dem Gedanken einverstanden sein, denn die große Masse möchte die Kunst praktizieren, es nicht gewesen zu sein. Aber sie darf und kann dies nicht abstreiten, denn auch die Masse ist es – wie Marx meint – auch gewesen. Er hat recht: Wir alle haben unsere Geschichte gemacht. Wir alle haben politischen Entscheidungen getroffen durch aktives politisches Tun oder durch passive Untätigkeit. Natürlich sind die aktiv Handelnden stärker in die Verantwortung zu nehmen – sie sind die Täter und man kann sie identifizieren, also auch zur Verantwortung ziehen; was häufig genug unterbleibt (und so schließt sich der Kreis), weil viele Leute glauben, dass Geschichte einfach so geschieht.

Anlass für diese Einleitung zur Rezension von „Wieviel Geschichte braucht die Zukunft?“ von Eric J. Hobsbawm, ist die Ministerpräsidentenwahl am 05.02.2020 in Thüringen. Im Parlament haben sich jene Kräfte zusammengetan, die sich selbst als Bürgerliche Parteien bezeichnen; das Bürgerlich allerdings im Sinne des BGB gebraucht. Den Bürgerlichen war es schon immer gleichgültig, wer ihre Interessen gegen die überwältigende Mehrheit der Staatsbürger durchsetzt. Die politisch Handelnden dieser Bürgerlichen haben entschieden, keine Skrupel zu haben, sich die Macht von der Fraktion der AfD (mit dem Faschisten Höcke in ihrer Mitte) geben zu lassen.

Was haben die Eingangsbemerkungen jetzt mit der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen zu tun? Und warum erwähne ich das im Zusammenhang mit dem Titel von Hobsbawm? Nun, vor exakt 90 Jahren, am 02.02.1930 jubelte ein gewisser A. Hitler: „Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei. […] Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen.“ Damit war der Landtag in Thüringen Ort der ersten Regierungsbeteiligung der NSDAP. Wohin das führte, muss ich nicht weiter ausführen. Von den Bürgerlichen politisch gesellschaftsfähig gemacht, beschritten die Nazis den Weg. Der neue (glatzköpfige) Ministerpräsident hat selbst zu Protokoll gegeben, dass er über Geschichtskenntnisse verfügt (Wahlkampfslogan: „Endlich eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat“). Heute wissen wir, wie er das eigentlich gemeint hat.

Zum Buch: Der Autor, Historiker und Zeitzeuge unseres Jahrhunderts, Eric J. Hobsbawm wurde 1917 im ägyptischen Alexandria geboren, ging in Wien und Berlin zur Schule und lebte seit 1933 (vorwiegend) in London. Als Geschichtsprofessor wirkte er u. a. in London, Stanford, New York und Paris. Er gehörte zu den bedeutendsten Geschichtswissenschaftlern unserer Zeit. Wie nur wenige, zeichnete er sich als Universalgeschichtler aus, verfügte über enzyklopädisches Wissen und verstand sich auf verschiedenste Themen. Vor allem vermochte er sowohl konkrete empirische Geschichtsforschung zu betreiben als auch gewonnene Resultate theoretisch und methodologisch zu verarbeiten. Das Aufgreifen der Sozialgeschichte ist nicht nur in Deutschland mit auf sein Wirken zurückzuführen. In seinen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten hat er stets Aspekte der geistig-kulturellen Entwicklung und die globalen Probleme einbezogen.

Wer diesen Mann in seinem Denken, mit seinen messerscharfen Analysen und mit seinen Ausblicken kennenlernen möchte, dem sei dieses Buch empfohlen. Im vorliegenden Band resümiert er gleichsam sein Nachdenken über die Geschichte im Allgemeinen und sein eigenes Erleben im 20. Jahrhundert im Speziellen. Die im Buch versammelten 21 Aufsätze entstanden größtenteils als Vorträge und sind daher, durchaus auch humorvoll aufgelockert, sehr gut zu lesen. Die Beiträge befassen sich – wie eingangs angedeutet – mit Fragen des Geschichtsbewusstseins und mit unserem Wissen um Geschichte, mit dem „Gebrauch und Missbrauch von Geschichte“ in Gesellschaft und Politik Sie geben Auskunft über Leistungen und Fehlleistungen, Stand und Zukunft der Geschichtswissenschaft.

Hobsbawm bekannte sich seitlebens zur „materialistischen Geschichtsauffassung“ von Marx, die er „für den bei weitem besten Wegweiser zur Geschichte“ ansieht. Eine ernsthafte Diskussion über Geschichte ist für ihn nicht möglich, wenn sie „sich nicht auf Marx bezieht oder, noch genauer, die nicht von denselben Prämissen ausgeht wie er“. Seine durchaus logische Konsequenz ist, Marx und den Marxismus („innerhalb und außerhalb der Geschichtswissenschaft“) zu verteidigen; dabei ist sein Verständnis von Marxismus nie dogmatisch. Es kann uns also nicht wundern, dass in diesem Buch auch Beiträge wie: „Historiker und Ökonomen“, „Über Parteilichkeit“, „Was haben Historiker Karl Marx zu verdanken“ oder „Marx und Geschichte“ zu finden sind.

Zugegebenermaßen fiel es mir wegen der Übereinstimmung meiner Grundauffassung mit der materialistischen Geschichtsschreibung Hobsbawms leicht, dieses Buch zu verstehen. Besonders einer der Kernsätze über die Aufgabe von Geschichtsschreibung ist für mich zu einem Leitgedanken geworden: „Was wir wissen möchten ist nicht nur das Was, sondern auch das Warum.“ Er meint, Verständnis von Gesellschaft setzt Verständnis von Geschichte voraus, ohne Geschichte auf die Zukunft zu schauen, sei blind und gefährlich. Dem möchte ich nichts hinzufügen, außer die Empfehlung in Zeiten wie diesen, in denen wir für die Zukunft viel Geschichte brauchen, Hobsbawm zu lesen.